Die Wiedergeburt
den Splitter zu nehmen und Lauriston House damit zu verlassen.
Schließlich entzündete sie doch eine Lampe, ging zum Bett und holte den Splitter aus dem Nachttisch. Lange Zeit stand sie nur da, starrte gedankenverloren auf das Tuch, in das er eingeschlagen war, und legte ihn dann zurück, ohne ihn auch nur ausgewickelt zu haben.
Lucian hatte recht. Sie konnte ihn nicht einfach verstecken. Es war weniger die Gefahr, dass die Jäger ihn finden würden, als vielmehr das beklemmende Gefühl, dass es geschehen konnte . Der Splitter musste zerstört werden – und zwar bald!
Seit dem Tod ihrer Eltern hatte es keinen Tag, keine Stunde gegeben, in der sie sich sicher gefühlt hatte. Vampyre bestimmten ihr Dasein. Ihr Leben gehörte der Jagd. Während der letzten Jahre hatte sie in ständiger Wachsamkeit gelebt, immer darauf gefasst, dass eine der Kreaturen angriff. Sie war daran gewöhnt, auf sich aufzupassen. Abgesehen von Gavril, dessen Fürsorge sie niemals zugelassen hatte, gab es niemanden, der je auf sie achtgegeben oder sich um sie gesorgt hätte. Dann war Lucian in ihr Leben getreten. So sehr sie sich auch dagegen gewehrt hatte, fühlte sie sich ausgerechnet in seiner Nähe sicher. Umso mehr erschreckte es sie, ihn so schwach und hilflos zu sehen. Was sie empfand, ging über bloße Sorge hinaus. Sie fürchtete um sein Leben und hatte entsetzliche Angst, ihn zu verlieren.
»Was machst du mit mir?«, flüsterte sie und rollte sich auf dem Bett zusammen. Nach wenigen Atemzügen war sie eingeschlafen, doch die Bilder, die sie heimsuchten, ließen sie erzittern. Dieses Mal waren sie nicht in der Kapelle von Rosslyn, sondern in der Bibliothek. Alexandra stand auf der Galerie und blickte in den Saal hinunter, wo Lucian vor einem Regal kniete und ein Buch aus dem untersten Fach zog. Er sah auf. Ein Lächeln breitete sich über seine Züge, als er sie oben hinter dem Geländer erblickte. Alles wird gut ,formten seine Lippen lautlos. Ein Versprechen, das von dem Schatten verschlungen wurde, der sich im selben Atemzug wie ein Grabtuch über ihn legte. Die Dunkelheit, die ihn umgab, schien alles Licht in der Umgebung aufzusaugen. Alexandra musste die Augen zusammenkneifen, um die dunkle Silhouette in der Finsternis hinter Lucian ausmachen zu können. Der spitz zulaufende Gegenstand, den der Schemen in Händen hielt, war keine Waffe, und doch war er gefährlicher, als jedes Kriegswerkzeug es je hätte sein können. Sie wusste, dass sie träumte, und wünschte sich zu erwachen, ehe geschah, was unweigerlich geschehen musste, doch die erschreckenden Bilder ließen sich nicht vertreiben.
»Lucian!«, schrie sie. »Vorsicht!«
Er reagierte nicht einmal. Es war, als könne er sie zwar sehen, aber nicht hören. Sie rannte los, die Treppen hinunter, und hetzte zwischen den Regalen hindurch. Je näher sie ihm kam, desto tiefer wurden die Schatten, als zöge eine neblige Dämmerung über dem Lesesaal herein. Alexandra tastete sich an den Bücherreihen voran, bis Lucian sich vor ihr im Halbdunkel manifestierte. Er kniete noch immer vor dem Regal. Als er sie bemerkte, sah er auf.
»Lucian!«, rief sie atemlos. »Hinter Ihnen!«
Wieder schien er sie weder zu hören noch ihre aufgeregten Gesten wahrzunehmen. »Das müssen Sie sich ansehen«, sagte er beinahe andächtig und winkte sie heran. »Das wird all unsere Probleme lösen!«
Sah er denn den Schatten hinter sich nicht? Spürte er nicht, dass etwas nicht stimmte? Alexandra ergriff seine Hand und versuchte ihn von der Silhouette fortzuziehen. Lucians Finger schlossen sich zärtlich um ihre.
»Ich wusste von Anfang an, dass ich dir nicht gleichgültig bin«, sagte er leise.
Alexandra schrie, doch auch das hörte er nicht. Ihre Schreie wurden lauter, als der Schemen in Lucians Rücken zustieß. Lucian bäumte sich auf, die Augen vor Überraschung aufgerissen. Noch immer hielt er Alexandras Hand, der Druck seiner Finger verstärkte sich, ehe er schwächer wurde und schließlich ganz verschwand, als sein Körper vor ihren Augen zu Staub zerfiel.
Mit einem unterdrückten Schrei fuhr Alexandra hoch. Lucian! Sie stand auf, nahm die Lampe und ging zu ihm.
Er lag noch immer auf dem Bauch und schlief. Alexandra stellte die Laterne ab, zog die Decke zurück und warf einen Blick auf die Wunden. Ungläubig starrte sie auf seinen unversehrten Rücken. Sie widerstand dem Drang, ihn zu berühren, und deckte ihn wieder zu. Behutsam, um ihn nicht zu wecken, tastete sie nach seiner Stirn. Die
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