Die Wiedergeburt
Sie das denn nicht? Ich meide Menschen und sie meiden mich! Selbst die Jäger sind mir all die Jahre aus dem Weg gegangen. Ich kann nicht mehr mit anderen Menschen zusammen sein.« Mit jedem Wort wurde sie leiser, bis sie nur mehr flüsterte: »Ich habe vergessen, wie das geht.«
»Da trifft es sich doch vortrefflich, dass ich kein Mensch mehr bin.«
Glaubte sie tatsächlich, was sie da sagte, oder war es nicht vielmehr so, dass sie sich davor fürchtete, überhaupt jemanden an sich heranzulassen, aus Angst davor, ihn zu verlieren? Ihre Worte waren dazu gedacht, ihn abzuschrecken, stattdessen hielten sie seine Hoffnung am Leben. Seit sie aufgewacht war, hatte sie mehr über sich preisgegeben als während der ganzen letzten Wochen. Solange es ihm gelang, weiterhin zu ihr vorzudringen, bestand noch immer die Möglichkeit, eines Tages ihr Herz zu erreichen. Als sie zur Tür ging, war er versucht, sie aufzuhalten. Während der vergangenen Stunden war sie ihm so nah gewesen. Es war ihm gelungen, einen Teil der Mauer einzureißen, die sie umgab. Wenn er sie jetzt gehen ließ, fürchtete er, dass sie die Mauer wieder aufbauen und womöglich weiter als zuvor von ihm fortrücken würde. Als sie auf die Schwelle trat, sagte er: »Ich wünschte, wir könnten nur einmal vergessen, wer oder was wir sind.«
*
Obwohl seine Worte kaum mehr als ein Flüstern waren, ließen sie Alexandra innehalten. Mit seiner Unnachgiebigkeit hatte er sie dazu gebracht, sich ihm zu öffnen. Es war das erste Mal seit dem Tod ihrer Eltern, dass sie sich jemandem anvertraut hatte. Das erste Mal, dass sie Nähe zugelassen hatte. Zu wissen, dass Lucian da war, sie beschützte und ihr Halt gab, war erschreckend und wunderbar zugleich.
Als sie sich noch einmal zu ihm umdrehte, fand sie ihn am Fenster. Er hatte die Vorhänge ein Stück auseinandergezogen und blickte hinaus. Ehe sie wusste, was sie tat, stand sie hinter ihm. Sie wollte ihm sagen, dass es ihr leidtat und dass sich die Dinge zwischen ihnen womöglich anders entwickelt hätten, wenn sie sich unter anderen Umständen begegnet wären. Wenn er nicht der wäre, der er nun einmal ist. Als er sich zu ihr umwandte, rückten alle Worte in weite Ferne. Da war nur noch Lucian. Sie wusste, dass sie im Begriff war, einen Fehler zu begehen. Etwas, was sich nicht mehr rückgängig machen lassen würde. Doch statt kehrtzumachen und sich so schnell und weit wie möglich von ihm zu entfernen, sah sie ihn nur an. Da war nur noch Wärme. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, und während sie seinem Rhythmus lauschte, spürte sie das Verlangen in sich aufsteigen, die Hand nach ihm auszustrecken. Sie wollte Lucian berühren, wollte wissen, wie es sich anfühlte, seine Hände auf ihrer Haut zu spüren. Ein wenig zögernd strich sie ihm über die Wange, ehe sie vortrat und ihn küsste. Zugleich machte sie sich an den Knöpfen seines Hemdes zu schaffen.
Lucian zog sie an sich und erwiderte ihren Kuss, anfangs zärtlich, dann mit wachsender Leidenschaft. Als sie ihm das Hemd von den Schultern streifte und seine Haut liebkoste, hielt er inne.
»Was tust du da?«
»Vergessen«, sagte sie und küsste ihn erneut. »Wer wir sind. Was wir sind. Nur dieses eine Mal.« Ihre Zunge glitt über seine Lippen, in seinen Mund. Lucian stöhnte leise auf. Dennoch entzog er sich ihr erneut.
»Hör auf«, sagte er sanft, aber bestimmt, und hielt ihre Hände fest.
»Aber Sie … du willst es doch auch.«
Er nahm ihr Gesicht in beide Hände und zwang sie, ihn anzusehen. Sein Gesicht … Eine Gänsehaut breitete sich über ihre Arme und ihren Rücken aus. Um ein Haar hätte sie tatsächlich vergessen, wer er war.
»Ja, ich will dich«, sagte er. »Mehr als alles andere auf der Welt. Aber ich will nicht, dass du in mein Bett steigst, weil du glaubst, mir etwas schuldig zu sein.«
Alexandra wäre vor Scham am liebsten im Erdboden versunken. Was bin ich für eine Närrin! Sie senkte den Blick. »Das war dumm von mir.«
»Nein, es war menschlich. Ich habe dich mit meinem Drängen in die Enge getrieben. Das hätte ich nicht tun dürfen.« Er schlang die Arme um sie und hielt sie fest. »Ich liebe dich«, flüsterte er und zog sie noch enger an sich. »Doch du fühlst dich nur einsam, deshalb suchst du meine Nähe. Ich weiß, dass du nicht aus deiner Haut kannst, und ich will nicht, dass du etwas tust, was du später bereuen würdest.«
Seine Worte nahmen ihr den Atem. Wenn er sie wirklich liebte – und daran zweifelte sie
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