Die Wiedergeburt
nicht mehr –, woher nahm er dann die Kraft, sie abzuweisen? Als er ihr einen Kuss auf die Stirn hauchte, seufzte sie: »Warum müssen die Dinge so kompliziert sein?«
9
Als Alexandra an der gedeckten Frühstückstafel Platz nahm, war es bereits später Vormittag. Lucian rückte ihr den Stuhl zurecht und schenkte ihr eine Tasse Tee ein.
»Robert war in der Stadt, um sich ein wenig umzuhören«, erklärte Lucian, als er ihren Blick auf Bothwells leeren Platz bemerkte. »Er zieht sich nur rasch um und wird sich dann zu uns gesellen.«
Alexandra nickte abwesend und nippte an ihrem Tee. Sie war so in Gedanken versunken, dass sie nicht einmal hätte sagen können, ob das Gebräu heiß war und welchen Geschmack es überhaupt hatte. Vorhin, als sie in ihr Zimmer gegangen war, um sich frisch zu machen, hatte sie sich gefragt, ob sie es fertigbringen würde, Lucian je wieder unter die Augen zu treten. Sie hatte befürchtet, dass die Kluft zwischen ihnen durch ihr Benehmen nun größer sein würde als jemals zuvor. Doch Lucian überraschte sie. Er ließ sie mit keinem Wort, keinem Blick und keiner Geste merken, wie peinlich ihr Gebaren gewesen war.
Wenngleich sie es schon länger geahnt hatte, war es das erste Mal gewesen, dass er es tatsächlich ausgesprochen hatte: Lucian liebte sie – auch wenn sie nicht verstand, warum. Es war, als hätten die Ereignisse der letzten Stunden sie einander nur noch nähergebracht. Doch obwohl sie sich nichts sehnlicher wünschte, als die Hand nach ihm auszustrecken, wollte es ihr nicht gelingen, über ihren Schatten zu springen.
Mit jedem Moment, den sie in seiner Gesellschaft verbrachte, fiel es ihr schwerer, sich daran zu erinnern, warum sie nicht bei ihm sein konnte. Sie sah nicht länger die Kreatur in ihm, sondern den Mann dahinter. Die Gefühle, die Lucian in ihr auslöste, liefen allem zuwider, woran sie glaubte. Er war ein Vampyr! Sein Zwillingsbruder hatte ihre Familie abgeschlachtet! Sich jetzt mit ihm einzulassen, war, als würde sie das Andenken an ihre Eltern und ihren Bruder mit Füßen treten.
Alexandra war sich nicht sicher, ob sie sich lediglich zu Lucian hingezogen fühlte oder ob sie dabei war, sich in ihn zu verlieben. Sie wusste Liebe und Freundschaft nicht zu unterscheiden, denn sie hatte seit Langem keine anderen Gefühle als Hass und Abscheu zugelassen. Zuneigung war ihr fremd geworden. Doch was immer sie für ihn empfinden mochte, durfte nicht sein. Niemals konnte sie einen derartigen Verrat an ihrer Familie begehen!
Obwohl sie kaum wagte, ihn anzusehen, benahm sich Lucian, als wäre nichts gewesen. Er gab ihr das Gefühl, dass sie sich nicht für ihr Verhalten zu schämen brauchte, und gab ihr die Möglichkeit, ihm zu begegnen, als wäre nichts geschehen.
Als Bothwell das Esszimmer betrat, schenkte er sich eine Tasse Tee ein, nahm ein Stück Gebäck und ließ sich mit einem Seufzer auf seinen Stuhl sinken. Alexandra entging der finstere Blick nicht, mit dem er sie dabei bedachte. Erst, als sich seine Augen auf Lucian richteten, wich der Zorn aus seinen Zügen.
»Alles in Ordnung?«, erkundigte er sich knapp.
Lucian nickte. »Was hast du herausgefunden?«
»Die Leiche des Bibliothekars wurde gestern Nachmittag entdeckt«, berichtete Bothwell. »In der Stadt geht die Kunde um, dass sich der Wahnsinnige Schlächter ein neues Opfer gesucht hat.«
Seit sie die Bibliothek verlassen hatten, war es das erste Mal, dass Alexandra wieder an die Jäger dachte. Dass Vladimir seine Ziele derart blindwütig verfolgte, überraschte sie nicht, was ihr jedoch zu schaffen machte, war, dass es ihm offenbar gelungen war, Mihail und Gavril mit seiner Besessenheit zu infizieren.
»Die Leute sind nervös«, fuhr Bothwell fort. »Überall stehen sie zusammen, sprechen und sehen sich mit furchtsamen Blicken um.«
War es ihnen zu verdenken? Nachdem die Morde mit dem Tod des Unendlichen und der Erlösung seiner Kreaturen ein Ende gefunden hatten, war wochenlang nichts passiert. Die Anspannung hatte sich ein wenig gelegt. Die Menschen begannen Hoffnung zu schöpfen, und die ersten wagten sich nachts wieder auf die Straße. Zweifelsohne musste sie die Nachricht vom Tod des Bibliothekars erneut in Angst und Schrecken versetzen. Dass er weder in einem der engen Closes ums Leben gekommen war, wo die anderen ihr Ende gefunden hatten, noch sein Leichnam blutleer gewesen war, schien dabei niemandem aufzufallen. Womöglich wissen sie es gar nicht. Vielleicht behielten die Konstabler,
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