Die Wiedergeburt
zurückgelassen zu haben, ließ sie ihren Blick durch den zugigen Steinbau wandern, das Kreuzgewölbe entlang, zum Altar, wo ein Mann im Priestergewand die Kerzen austauschte.
Links und rechts vom Mittelgang erstreckten sich lange Bankreihen bis nach vorne, immer wieder von hohen Steinsäulen vor Alexandras Blicken verborgen. Zwei Frauen saßen ins Gebet vertieft in der vordersten Bank. Die spitz zulaufenden, gotischen Fenster waren aus einfachem Glas, viele der Scheiben hatten Sprünge, manche fehlten gänzlich, weshalb es im Inneren der Kirche beinahe so kalt war wie draußen. Abgesehen von einem großen, prachtvoll geschnitzten Holzkreuz hinter dem Altar und diversen Reliefen an Säulen und Wänden waren die Blumengestecke, die neben dem Altar auf dem Boden standen, der einzige Schmuck.
An vielen Stellen erweckte das Mauerwerk den Eindruck, als hätten sich hier einst große Schätze befunden, die jedoch entfernt oder aus dem Stein geschlagen worden waren. Unwillkürlich musste sie an die verwüstete Kapelle von Rosslyn denken, in der von den Kostbarkeiten und dem Zierrat vergangener Epochen nichts mehr geblieben war. Im Gegensatz zu Rosslyn hatte man sich hier jedoch die Mühe gemacht, das Gotteshaus wieder instand zu setzen, auch wenn es wohl längst nicht mehr an die einstige Pracht erinnerte. Ob St. Giles überhaupt über ein Archiv verfügte? Waren womöglich alle Schriftstücke während der Aufstände verloren gegangen oder zerstört worden?
»Auch dieses Haus Gottes musste während der Reformation seinen Preis zahlen.« Als sie die Stimme neben sich vernahm, fuhr Alexandra erschrocken herum und blickte in das hagere Gesicht des Mannes, der zuvor am Altar die Kerzen ausgetauscht hatte. »Entschuldigen Sie, Miss, ich wollte Sie nicht erschrecken. Ich habe gesehen, wie sie die alten Intarsien betrachtet haben, und dachte, sie würden womöglich etwas darüber wissen wollen.« Dann lachte er plötzlich leise. »Verzeihen Sie. Wenn es um dieses erhabene Gemäuer geht, vergesse ich jedes Mal meine Manieren. Ich bin Reverend Macalister. Können Sie sich vorstellen, dass dieser erhabene Bau während der Aufstände fast vollkommen verwüstet wurde und danach jahrzehntelang als Gefängnis und Versammlungsort gedient hat?« Der Blick des Reverends wanderte hinauf zum Kreuzgewölbe und folgte ihm Richtung Altar. Auf seinem Gesicht lag eine Begeisterung, als könne er den Glanz vergangener Tage noch immer sehen. »Vor uns liegt noch viel Arbeit«, erklärte er ihr, »doch eines Tages wird St. Giles neu erstrahlen – prächtiger als je zuvor!«
Alexandra ging einige Schritte und sah sich weiter in der Kathedrale um, ehe sie erneut stehen blieb und sich dem Reverend zuwandte. »Es scheint kaum eine Reliquie verschont geblieben zu sein.«
»Das ist wohl wahr«, seufzte Reverend Macalister. »Es hat St. Giles schwer getroffen, doch zugleich war es Glück im Unglück, denn es hätte schlimmer kommen können.«
»Aber wie ist das überhaupt möglich?«, erkundigte sich Alexandra betont arglos und ließ ihren Blick weiter über die Wände streifen. »Ich habe einmal gehört, dass es gar nicht möglich ist, kirchliche Reliquien zu zerstören.«
Der Reverend bedachte sie mit einem nachsichtigen Lächeln, wie man es einem Kind schenken mochte, das eine seltsame Frage gestellt hat. »Auch ich habe davon gehört, obwohl ich nicht weiß, ob ich ein derartiges Artefakt überhaupt schon einmal zu Gesicht bekommen habe, denn ich habe auch nie versucht, eines zu zerstören. Ungläubige jedoch erschufen vor langer Zeit Rituale, mit denen die Zerstörung möglich sein soll.«
»Tatsächlich?« Alexandra hatte Mühe, sich ihre wachsende Aufregung nicht anmerken zu lassen. »Wurden sie bei den Aufständen eingesetzt, um die heiligen Reliquien zu zerstören?«
»Das bezweifle ich.«
Seine Antwort ließ ihren Mut schlagartig sinken. »Dann existieren sie nicht mehr?«
»Die Niederschriften dieser Riten scheinen ebenso unzerstörbar zu sein wie die Artefakte, für die sie bestimmt sein sollen. Deshalb sind sie unter Verschluss – bevor St. Giles auf so schändliche Weise entweiht wurde, brachte der damalige Vorsteher das gesamte Archiv in Sicherheit.«
Sichtlich schien er weder an unzerstörbare Artefakte noch an die Wirkung der Rituale zu glauben. Andernfalls hätte er kaum so viel erzählt. Womöglich ging er auch davon aus, dass niemand ein Artefakt zerstören und stattdessen lieber versuchen würde, es gewinnbringend zu
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