Die Wiege des Windes
verlegen. Wieder einmal hatte er nicht den Mut, ihr die Wahrheit einzugestehen.
*
Rike trug ihre dunkle Daunenjacke und die warme Thermohose. Handschuhe, Stiefel, Mütze, alles war in dunklen Farben gehalten, um sich durch nichts von der nächtlichen Düsternis abzuheben. Töngen war ebenfalls schwarz gekleidet. Sie hatten das Licht im Schuppen gelöscht und einfach nur dagesessen und geredet. Über Gott und die Welt, über die Seehunde draußen im Watt, über die vergebliche Hilfsaktion für bedrohte Wale im Südpolarmeer und über Larsen, der sich in den letzten Monaten sehr zum Negativen verändert hatte. Als es dunkel genug war, machten sie sich auf. Sie schlichen sich durch die kleine, teilbare Hintertür im hinteren Teil des Schuppens, durch die Töngen normalerweise seine Schafe trieb, und arbeiteten sich im Schutze einer niederen Hecke bis zu dem Wäldchen vor. Immer wieder verharrten sie und spähten hinaus in die Finsternis, um Bewegungen oder Schatten erkennen zu können, doch es blieb ruhig. Als sie die Bäume erreichten, atmeten sie schwer. Jetzt lagen noch etwa zwei Kilometer Wald, Gestrüpp und Dünenlandschaft vor ihnen.
Töngen entpuppte sich als guter Führer. Er kannte die Gegend wie seine Westentasche. Der bewölkte Himmel kam ihnen zu Gute. Im Osten waren die Lichter des Ortes als Widerschein an den tiefen Wolken zu erkennen. Auf sandigen Wegen schlugen sie die Richtung zum Südufer ein. Das Boot lag nördlich der Aussichtsplattform am Flinthörn unterhalb der Kaapdünen. Ein Trampelpfad führte durch die hügelige Landschaft und verlief eine Weile parallel zum ausgetretenen Lehrpfad. An einer Gabelung bogen sie seewärts ab. Töngen führte das Mädchen sicher durch den unwegsamen Landstrich. Rikes Herz schlug wie wild und ihr Atem hinterließ für Sekunden weiße Wölkchen in der kalten Luft.
»Wir sind gleich da«, ermutigte Töngen sie. Auch ihm liefen kleine Schweißperlen über die Stirn. Er hielt einen schweren Stock in seinen Händen, mit dem er sich den Weg bahnte und auf den er sich im losen Sand stützte. Eine weitere Düne, steil und mannshoch, versperrte ihnen den Weg. Töngen ging voran und reichte Rike die Hand. Der Sand unter seinen Stiefeln kam ins Rutschen und er glitt aus. Lang gestreckt stürzte er in den kalten und feuchten Sand. Rike wäre ebenfalls gefallen, hätte sie sich nicht rechtzeitig aus seinem Griff befreit. Auf den Stock gestützt richtete sich Töngen auf und atmete tief ein. Plötzlich hörte er ein Geräusch. Es klang wie das Knirschen gefrorenen Grases, auf dem jemand entlangwanderte.
»Da ist jemand!«, flüsterte er.
Rikes Nackenhärchen stellten sich auf. Auch sie hatte das Knirschen wahrgenommen.
Töngen ließ sich auf den Boden gleiten und schob sich langsam auf den Kamm der Düne zu. Verdammt, fuhr es ihn durch den Kopf, wie kann das sein? Er hatte sich doch bemüht, unauffällig zu bleiben, als er aus dem Hafen geschippert war. Wie konnte der Mann im Mantel bloß Verdacht geschöpft haben?
Als er den Kopf über den Dünenkamm schob, flammte direkt vor ihm eine Taschenlampe auf. Er schlug aus einem Reflex heraus mit seinem Stock in die Richtung. Ein unterdrückter Aufschrei ertönte, dann stürzte ein Körper in den Sand.
»Schnell!«, rief Töngen Rike zu und sprang auf. Mit großen Schritten rannte er die Düne hinunter. Für einen Moment kam er ins Straucheln. Rike prallte fast gegen ihn.
Von dem Mann war nichts zu sehen. Die Wellen der Nordsee brandeten gegen das sandige Ufer. Sie waren ihrem Ziel nah, doch plötzlich spürte Rike jemanden nach ihrem Schenkel greifen. Sie schrie auf, als sie zu Boden gerissen wurde, aber Töngen hetzte voraus und schien nichts zu bemerken. Die Hände des Fremden fuhren durch ihr Gesicht und legten sich auf ihren Mund. Mit eisernem Griff hielt er sie umschlungen. Dann traf sie sein warmer Atem. Sie ballte die Faust und schlug zu. Einmal, zweimal und ein drittes Mal. Ein gurgelnder Laut erklang und der Griff des Fremden erlahmte. Rike kämpfte sich frei und richtete sich auf.
»Wo bist du?«, schrie sie hinaus in die Dunkelheit.
»Hier entlang!«
Sie rannte in die Richtung, aus der die Antwort gekommen war, und sah ein Feuerzeug aufflammen. Das Klatschen des Wassers unter ihren Füßen verriet ihr, dass sie sich an der Wasserlinie befand. Sie rannte mit letzter Kraft auf den Lichtschein zu, in dem sie die Silhouette des Bootes erkannte.
»Los, steig ein!« Töngen hatte das Boot losgebunden. Rike sprang,
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