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Die Wiege des Windes

Titel: Die Wiege des Windes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Hefner
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Gradangaben«, murmelte Onno Behrend nachdenklich. »So etwas wie ein Koordinatensystem. Aber ich habe keine Ahnung, was die Zahlen in den anderen Spalten bedeuten.«
    Rike erhob sich und trat an eine der Seekarten heran. Mit dem Zeigefinger folgte sie den schwarzen Linien, die das blaue Wasser zerschnitten. Horizontal und vertikal. »Können wir nicht einfach auf der Karte nachschauen?«
    »Es sind Positionsangaben, die möglicherweise mit einem GPS-System errechnet wurden«, entgegnete Behrend. »Aber sie lehnen sich nicht am Meridiansystem an. Irgendwo hat jemand einen willkürlichen Nullpunkt gesetzt. Und daran orientiert sich die gesamte Aufschlüsselung.«
    Noch einmal warf Onno Behrend einen Blick auf den Bildschirm. Mit dem Finger glitt er über die erste Zeile.
     
    1
    8,433
    75°/224°
    +2,462
    54/117 o 86 M. (4)
     
    2
    19,461
    83°/256°
    +0,112
    76/138 o 94 M. (9)
     
     
    »Wenn ich es mir recht überlege, dann müsste bei einem frei gewählten Nullpunkt natürlich auch die Entfernung zwischen zwei bestimmten Positionen angegeben werden. Der Wert in der Spalte zwei oder vier könnte eine Entfernungsangabe sein. Wir haben insgesamt 24 Zeilen. Wenn wir diese zusammenfügen, und jeweils die noch unbekannten Spaltenwerte, also einen davon, als Entfernung annehmen, erhalten wir ein Muster. Mal sehen, ob wir daraus was erkennen können. Natürlich müssen wir noch einen entsprechenden Maßstab anwenden und uns für Nautische Meilen, Kilometer oder Meter entscheiden.«
    Rikes Blick streifte die Karte. Sie zeigte einen Ausschnitt des Wattenmeers. Die Küste, die vorgelagerten Inseln Mellum, Wangerooge, Spiekeroog und Langeoog, und der Jadebusen waren darauf fast vollständig abgebildet. Die Karte reichte hinaus bis über die dunkel schraffierte 12-Meilen-Zone. Zusätzlich war das Gewässer mit Tiefenmetern versehen. Am rechten unteren Rand der Karte befanden sich eine Zeichenerklärung und eine Maßstabsangabe. »Wie wäre es hiermit?«
    Behrends Augen folgten Rikes Fingerzeig. »Eine gute Idee.«
    Schwach klang das Klingeln des Telefons in das Zimmer.
    »Zu blöde, jetzt habe ich schon ein Mobiltelefon, trotzdem ist es nie in der Nähe, wenn man es braucht«, brummelte Onno. »Würdest du bitte so gut sein, es liegt irgendwo im Wohnzimmer.«
    Rike lief die steile Treppe hinunter. Es war wie der Gang in eine andere Welt. Unten empfing sie wieder die warme Atmosphäre von dunkler Eichenholztäfelung, gediegenen Stoffen, flauschigen Teppichen und dramatischen Ölgemälden mit Szenen des Kampfes von Menschen gegen die stürmische See. Nur wenige Stufen trennten die Jahrhunderte.
    Sie fand das Telefon auf der mächtigen, mit blauweißen Deckchen geschmückten Kommode. Dann fiel ihr ein, dass niemand wissen durfte, dass sie sich hier bei Onno Behrend verkroch. Sie meldete sich nur mit einem dumpfen »Hm«.
    »Endlich«, drang die aufgeregte Stimme von Hilko Corde aus dem Telefon. »Ich versuche euch schon seit gestern Mittag zu erreichen. Was ist los bei euch?«
    »Wir waren oben«, antwortete Rike. »Was ist denn passiert?«
    »Die Polizei war gestern bei mir.« Seine Stimme vibrierte. »Sie haben Larsen gefunden. Er ist tot!«
    Rike fuhr ein dumpfer Schmerz in den Magen. Wortlos ließ sie den Hörer sinken. Dann taumelte sie und fiel in einen Sessel. Sie nahm den Hörer wieder auf. »Was ist passiert?«, fragte sie mit brüchiger Stimme.
    »Er ist ertrunken. Schon vor Wochen. Er war schon tot, als du zurückgekommen bist. Damals, kurz nachdem er in Langeoog vom Kutter ging.«
    »Ertrunken?«, wiederholte Rike. »Einfach so?«
    »Ich kenne den Jungen«, erwiderte Corde. »Der ist an der See geboren. Der ertrinkt nicht so leicht. Auch bei diesen Temperaturen nicht.«
    »Du meinst, er wurde umgebracht?«, schrie Rike, der Hysterie nahe. Unbemerkt war Onno Behrend an ihre Seite getreten und hatte ihr die Hand auf die Schulter gelegt. Rike schaute zu ihm auf. Er breitete die Arme aus. Sie erhob sich und ließ sich in seine Umarmung fallen wie eine Ertrinkende, die nach einem vorbeischwimmenden Rettungsring greift.
    Väterlich streichelte ihr Onno Behrend über den Rücken. »Ist gut, Mädchen. Wein dich nur aus.«
    Der Hörer lag auf dem Sessel. Behrend ignorierte das Rufen aus dem Lautsprecher und widmete sich ganz dem Mädchen in seinen Armen. Minutenlang standen sie da, bis sich Rikes Griff löste und sie mit den Händen ihre Tränen von den Wangen strich.
    Onno Behrend blickte nachdenklich auf den Telefonhörer.

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