Die wilde Gärtnerin - Roman
an, Ledas Ausführungen zu entkommen. »Wir gehen nach oben«, informierte Leo die Anwesenden und verließ mit Helen das Wohnzimmer über die Wendeltreppe.
»Aber schau dir doch all die Gräuel an, die die Menschheit verübt. Waldsterben, Ölkatastrophen, Tschernobyl, von den täglichen Gemeinheiten rede ich noch gar nicht. Also, wenn man sich das ansieht, bekommt man schon den Eindruck, dass der Mensch verdammt ist und nach Tod und Vernichtung strebt«, wollte Paul Triletzky noch schnell Klarheit in diesem Punkt schaffen, um sich gleich danach den heiteren Anekdoten seines Ärztealltags zu widmen.
»Ja«, sagte Leda, »wenn dein Blick für Katastrophen geschärft worden ist, wirst du auch öfter und leichter Katastrophen sehen. Aber es gibt auch Schönheit / Liebe / Freundschaft.«
In Leos Zimmer hingen Poster aus Jugendzeitschriften, waren Plastikkisten voller Spielzeug am Boden gestapelt, davor lagen einige CDs unweit ihrer Hüllen. Als Helens Blick auf einige Kinderbücher und zwei von intensivem Gebrauch stark mitgenommene Teddybären fiel, packte Leo den Krempel und presste ihn in eine noch halbwegs aufnahmefähige Kiste.
»Lass nur«, überspielte Helen die Situation. »Vor mir brauchst du nichts verstecken. Wir befinden uns gerade in der Pubertät, da laufen Kindsein und Erwachsenwerden nebeneinander her. Dafür brauchst du dich nicht genieren.« Sie hockte sich auf einen grünen Sitzsack und ärgerte sich, dass ihr weder eine bequeme noch eine rückgratschonende Haltung gelang. Leo sank auf den roten Sack neben ihr und lachte über ihre schulmeisterliche Art. »Übrigens, ich bin jetzt eine Frau«, sagte Helen. Sie verzichtete auf den stolzen Ton, in dem Leda ihr diese Tatsache verkündet hatte.
»Aha«, sagte er, »was warst du bisher?«
»Ein
Mädchen
, selbstverständlich.«
»Und wie ist es zu dieser plötzlichen Wandlung gekommen?«
»Durch einen Initiationsritus«, leierte Helen, »und meine Menstruation.« Sie ließ die beiden Fremdworte ohne weitere Belehrung wirken. Vielleicht kannte Leo ja eines davon.
»Du hast deine Regel bekommen?«
Helen nickte und war beruhigt, dass auf einen Arztsohn Verlass war.
»Wann?«
»Letzte Woche.«
»Wie lang?«
»Zwei Tage.«
»Hab ich gar nicht bemerkt.«
»Wie solltest du das auch bemerken?«
»Warum hast du mir nichts gesagt?«
»Na ja, also, hätte es dich interessiert?«
»Sicher. Jetzt sagst du es mir ja auch und es interessiert mich.«
»Stimmt. Aber ich erwähne das nur, weil ich eigentlich von Ledas Tamtam erzählen möchte, das sie aufgeführt hat.«
»Hat’s wehgetan?« Leo bereitete sich auf einen weiteren Exkurs ins weibliche Reich der Schmerzen vor.
»Nein, nur ein Ziehen in Rücken und Bauch. War nicht so schlimm.« Helen war von Leda schon seit Jahren auf das Eintreffen ihrer Menstruation vorbereitet worden. Sie wusste alles über die zu erwartenden hormonellen Abläufe. Erfuhr im Vorfeld von Spannung und Überempfindlichkeit ihrer Brüste, von Stichen im Becken und unter dem Schambein, von breiteren Hüften und Schmerzen im Unterleib als Vorbereitung auf künftige Schwangerschaften. Helen war dank Ledas Unterweisungen wie immer auf alles gefasst gewesen, aber letztendlich zutiefst überrascht, dass sich ihre Pubertät als erträglicher Zustand entpuppte.
»Und, Ledas Tamtam?«
»Sie hat ein Fest für mich veranstaltet. Also, nur sie und ich im Wohnzimmer.«
»Warum?«
»Weil ich mit meiner ersten Monatsblutung in den Kreis der Frauen eingetreten bin. Weil ich zur Wiedergebärerin meiner Ahninnen geworden bin. Ein Grund zur Freude, hat Leda gemeint.«
»Deine Mutter ist echt schräg. Was hat sie denn gemacht?«
Helen versteckte ihr Gesicht hinter den Händen. Sie genierte sich plötzlich vor Leo, obwohl sie während der Zeremonie andauernd gedacht hatte, ihm alles genau zu erzählen. Helen empfand die Feier als kindisch, aber sie hatte bemerkt, wie ungeheuer wichtig sie für Leda war. »Du sollst dir deine positive Einstellung zu deinem Körper erhalten / das schöne Gefühl, Frau zu sein«, hatte ihre Mutter gesagt. Helen hatte die Initiation ausschließlich ihr zuliebe mitgemacht. Sie selbst war von der Sinnhaftigkeit des Rituals nicht überzeugt. Trotzdem befürchtete sie, mit einer Nacherzählung ihre Mutter ins Lächerliche zu ziehen. »Na ja, es war eigentlich ganz schön. Sie hat mir ein bodenlanges Festtagsgewand geschenkt, meine Haare gekämmt, mir einen Blumenkranz aufgesetzt. Hat meine Fußsohlen und
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