Die wilde Jagd - Roman
schätzen – sie war ungefähr so alt wie Teia selbst.
»Hast du denn keinen Mann, der für dich sorgt?«, fragte Lenna sanft. »Keine Familie?«
»Nein. Ich habe meine Familie entehrt, indem ich weggegangen bin. Ich bin bei den Crainnh nicht mehr willkommen.«
Lenna senkte den Blick. »Wir sprechen die Namen unserer Clans hier nicht laut aus. Baer sagt, es ist besser, wenn wir das alles hinter uns lassen und ein neues Leben beginnen, statt dem hinterherzutrauern, was wir verloren haben.«
»Baer scheint sehr weise zu sein«, sagte Teia. »Ist er hier?«
»Er ist draußen und vergewissert sich, dass dir niemand gefolgt ist. Wir haben sehr wenig und können niemanden gebrauchen, der uns das auch noch wegzunehmen versucht.«
Geistesabwesend rieb sie über den Rand der Narbe an ihrer Wange, und Teia vermutete, dass sie diese erhalten hatte, als jemand versucht hatte, ihr zu rauben, was immer sie noch besitzen mochte. Vermutlich war es ein anderer Verlorener gewesen. »Tut es weh?«, fragte sie.
Beschämt legte Lenna die Hand in den Schoß und senkte den Kopf, sodass ihr dunkles Haar das Mal verdeckte. »Manchmal. Ein wenig.«
»Ich würde sie mir gern einmal ansehen.«
Ohne weiter darüber nachzudenken, erschuf Teia ein Licht und streckte die Hand aus, weil sie Lennas Gesicht zu sich drehen wollte, doch das Mädchen blinzelte entsetzt, rutschte rückwärts und machte so große Augen wie eine Feldmaus.
»Du hast nicht gesagt, dass du eine Sprecherin bist!«
»Ich bin nur eine Schülerin.« Teia breitete die Arme aus. »Ich will dir nicht wehtun, Lenna. Es ist doch bloß ein Licht.«
Das Mädchen war nicht überzeugt, wich noch weiter zurück und legte die Hände schützend um ihr Ungeborenes.
»Ich will nur helfen. Sieh mal, ich habe hier eine Salbe …« Teia öffnete eine ihrer Satteltaschen und suchte nach ihren Salben, doch Lenna schüttelte den Kopf und warf furchtsame Blicke auf die kleine Lichtkugel. Teia löschte sie wieder und schloss die Tasche. Das Wenige an Zutrauen, was sie sich bei dem Mädchen erarbeitet hatte, war verflogen – ihr großäugiges Starren verriet, dass sie erwartete, jeden Augenblick von Teia in ein Ungeheuer verwandelt zu werden.
Eine angespannte, stille Minute später kehrte Neve mit einer Suppe zurück – sie war dünn und nicht besonders gut, aber heiß –, und Teia fühlte sich besser, nachdem sie etwas davon gegessen hatte. Gestärkt ging sie durch die Höhle und sah sich Finn an.
Das Pferd wirkte glücklich; es war gut abgerieben worden und nach dem unfreiwilligen Bad im Fluss wieder getrocknet. Die Satteldecke lag ausgebreitet über einem Stein vor dem Feuer. Teia streichelte Finns Nase und entschuldigte sich noch einmal bei ihm, weil sie ihm nicht vertraut hatte. Als sie einen Blick dorthin warf, wo sie ihre Taschen zurückgelassen hatte, sah sie, wie sich Lenna flüsternd mit Neve unterhielt. Vermutlich redeten sie über Teia und das Licht, das sie erschaffen hatte. Sie versuchte, die gelegentlichen Blicke der jüngeren Frau zu übersehen, die wie Messer in sie stachen.
Drüben bei den Pferden konnte sie die Verlorenen im Feuerschein besser erkennen. Es waren Männer und Frauen, die vor der Zeit gealtert waren; ihre Gesichter waren verhärtet und verschlossen. Teia erkannte, dass sie Angst hatten – sie alle. Angst vor dem Verhungern, Angst vor dem Alleinsein, Angst, von anderen ausgeraubt zu werden, die vielleicht noch weniger besaßen als sie selbst. Lenna schien neben ihr die Jüngste zu sein. Es gab keine Kinder; in der Verbannung war es nicht gerade leicht, Nachwuchs großzuziehen. Teia betastete ihren dicken Bauch. Bald würde es hier sogar zwei Kinder geben.
Jemand stieß einen grellen Pfiff aus, und von draußen ertönte eine schrille Antwort. Drei Gestalten kamen aus der Kälte herein, klopften sich den Schnee von ihren Halbstiefeln und nahmen Bögen und Köcher ab. Einer von ihnen war ein schlaksiger Junge von etwa vierzehn Sommern, der seine Jugend unter einem struppigen, ungleichmäßig gewachsenen Bart versteckte. Nach ihm kam ein höchstens fünf oder sechs Jahre älterer Junge mit dem breiten Gesicht und stämmigen, gedrungenen Körper eines preisgekrönten Bocks, dessen zerzauste braune Locken unbedingt hätten geschoren werden müssen. Er ging geradewegs hinüber zu Lenna, die in seine Arme eilte.
Der dritte Mann hatte die Blüte seiner Jahre hinter sich; sein Gesicht war hart und sein Körper sehnig wie an der Sonne getrocknetes Fleisch. Mit
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