Die wilden Jahre
anschicken, unsere Positionen zu verlassen«, entgegnete Link melancholisch, »sehe ich erst, was wir an Ihnen haben. Ein Staatsanwalt irrt selten«, er leistete sich heute Ironie, »und wenn, dann nie auf seine Kosten.« Er wurde wieder ernst. »Aber ich bin kein Zyniker.«
Rothauch so demonstrativ die Hand reichend, als vereidige er ihn, setzte er hinzu: »Ich darf Ihre Zeit nicht …«
Der Leiter des Sonderdezernats durfte nichts überstürzen und nichts versäumen. Er setzte einen Haftbefehl auf, während der Ermittlungsrichter Dr. Kleinlein bei Tisch war. Als der Amtsgerichtsrat vom Essen zurückkam, war der Antrag bereits geschrieben.
Rothauch überlegte, ob es nicht besser sei, den verbitterten, unbedarften Beamten, der mit fünfzig aussah wie sechzig, selbst aufzusuchen. Er sah den Mann, der den Haftbefehl zu verantworten hatte, vor sich: dünn, schlecht gekleidet, den vergrämten Mund, die frühe Glatze; aber er verwarf den Gedanken. Kleinlein konnte ihm die Unterschrift nicht verweigern, der Antrag war hinreichend begründet, und in dieser Situation schien es klüger, sich nicht vorzudrängen.
Noch am gleichen Nachmittag erhielt Rothauch den Haftbefehl, rief die Staatsanwaltschaft in München an und teilte einem Kollegen mit, daß die Festnahme eines gewissen Brenner, Mitarbeiter des Tageskuriers, vorzunehmen sei, bat, dessen Adresse festzustellen, und abzuwarten, bis ein Beamter aus Frankfurt, Kriminalkommissar Krawuttke, in München eingetroffen sei. Man sicherte Rothauch, der das Gespräch mit ein paar freundlichen Worten schloß, in die er einflocht, daß diese ungewöhnliche Art des Vorgehens erforderlich sei, da es sich um eine Anschluss-Sache von Landesverrat handle, die Erfüllung seiner Wünsche zu. Der Staatsanwalt merkte noch am Telefon, wie das Zauberwort wirkte: Landesverrat.
Dann ließ er Krawuttke rufen, seinen Lieblingsbeamten.
»Ich habe Arbeit für Sie«, sagte Rothauch. »Schnappen Sie sich einen schnellen Wagen und einen zweiten Beamten, der Sie am Steuer ablösen kann. Fahren Sie nach München und«, er übergab ihm den Haftbefehl, »holen Sie mir schnell diesen Burschen.«
Er skizzierte kurz den Fall, der es nötig mache, ihn, Krawuttke, den besten Mann, den er habe, einer solchen Strapaze auszusetzen, denn der Festgenommene müsse auf schnellstem Wege hierher geschafft werden, ohne Vernehmung, ohne Möglichkeit, sich mit Dritten in Verbindung zu setzen. Haussuchung natürlich, Sicherstellung aller Unterlagen. Der bekannte Martin Ritt sei in diesen Fall verwickelt, ein Mann mit weit reichenden Verbindungen, millionenschwer, rücksichtslos, ein kalter Hund.
»Sollen wir Ritt beschatten?« fragte Krawuttke.
»Das lassen Sie bitte«, entgegnete der Staatsanwalt, »alles zu seiner Zeit.« Er dachte an die vielen Auslandsreisen des Verdächtigen, die die erstklassige Begründung für eine Fluchtgefahr abgäben, falls er – zur gegebenen Zeit – um einen richterlichen Haftbefehl kämpfen müsse.
Kurz vor dem Wochenende hatten die vom Bankhaus Wagenknecht emittierten Aktien einen Kursstand von über 1.000 erreicht, waren am Montag um knapp fünfzig Punkte zurückgefallen und pendelten sich nach ruckartig kleinen Bewegungen bei 950 ein. Kompetente Beobachter nahmen an, daß sie mit dieser Notierung ihren Standard erreicht hätten.
Die Börsenschlacht war zu Ende, da durch die Konsolidierung eine erste Beruhigung eintrat. In dieser Phase gab Dr. Schiele eine Erklärung an die Presse, daß über die Hälfte der an der Börse eingeführten Wertpapiere im Besitz der Ritt-AG verblieben sei.
Kenner und Laien erfuhren, daß Martin Ritt immer noch die Mehrheit in seiner Firma hatte, weiterhin Herr im eigenen Hause war und das Vertrauen in die von ihm ausgegebenen Wertpapiere demonstrierte, indem er auf weitere Riesengewinne, die in der Börsenluft lagen, freiwillig verzichtete. Es war eine typische Ritt-Geste: der Spekulant, dem es gelungen war, einen Teilbesitz um ein Vielfaches des realen Wertes zu veräußern, trat nun mit betontem Anstand auf.
»Das sieht ihm ähnlich«, sagte Bettina beim Frühstück zu ihrem Mann, »nach dem errafften Geld: der königliche Kaufmann.«
Petra kam, um sich von ihrem Stiefvater zu verabschieden, da sie heute mit Madame und Martin an die französische Riviera abreisen würde. Ihr Internat gewährte, mit Rücksicht auf seine überseeischen Zöglinge, eine lange Sommerpause, und so hatte die Fünfzehnjährige die erste Ferienwoche als Anstandsfrist
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