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Die Wildnis

Die Wildnis

Titel: Die Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Golden , Tim Lebbon
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Stille zu überleben.
    An manchen Tagen ging er an die Stelle, an der seine Freunde ihn gefunden hatten – die schneebedeckte Stelle, bei der Jack sich sicher war, dort tatsächlich gestorben zu sein, wenn auch nur für einige Minuten. Doch davon war keine Spur mehr zu sehen. Der Neuschnee hatte schon lange die tiefroten Blutflecken bedeckt, und obwohl er mehrmals versuchte, die toten Kaninchen, Hasen oder Marder auszugraben, indem er mit dem Stiefelabsatz durch den Schnee pflügte, kam niemals auch nur ein Knochen zum Vorschein. Merritt und Jim waren viel zu abergläubisch, um das Fleisch dieser Tiere zu berühren, und daher wusste Jack, dass seine Gefährten die Kadaver nicht entfernt hatten. Doch die Stelle schien unberührt, als wenn sie jemand gereinigt hätte. Wenn die anderen ihn nicht dort gefunden und die toten Tiere mit eigenen Augen gesehen hätten, hätte er denken müssen, dass sein Verstand dem langen Winter zum Opfer gefallen war.
    Erst Wochen und Monate nach jenem Tag wurde seine tägliche Routine eher zur sportlichen Betätigung. Er zwang seinen Körper zur Bewegung, um sich fit zu halten, obwohl sie alle durch den schwindenden Proviant schwächer geworden waren. Heute, an dem Tag, den sie für den ersten April hielten, wackelten seine Zähne, durch Skorbut gelockert. Er war froh, dass sie keinen Spiegel hatten. Wenn er genauso ausgezehrt war wie seine Gefährten und sein Zahnfleisch genauso schwarz war wie ihres, wollte er das lieber nicht sehen.
    Der Frühling konnte nicht mehr weit sein, doch immer noch herrschte die weiße Stille. Der Schnee und das Eis machten es ihm unmöglich, sich vorzustellen, die Erde könne je wieder erblühen, die Sonne wieder wärmen und der Fluss wieder fließen. Die vergangenen Wochen hatten Besucher an die Hütte gebracht, die vom Rauch angelockt wurden und bereit waren, weite Ausflüge von ihren eigenen Winterlagern zu unternehmen, nun da die Kälte nicht ganz so wehtat und auch ihr Proviant zur Neige ging. Trapper, Goldgräber und sogar Indianer besuchten sie und hofften auf ein wenig von allem, was ihnen ausgegangen war. Jack und seine Gefährten konnten ihnen zwar kaum mehr als eine Tasse dünnen Tee und etwas freundliche Unterhaltung bieten, doch erstaunlicherweise schien das den meisten zu reichen. Es waren Veteranen des Yukons, des Goldfiebers und der Wildnis, die voller Geschichten steckten. Und wenn Jack sie mit seinen Geschichten vom Leben als Austernpirat und Landstreicher unterhielt, teilten sie auch ihre Erfahrungen mit. Diese Geschichten bewahrte er gierig auf wie ein Geizhals seine Groschen, nur um sie später wieder hervorzukramen und zu bestaunen.
    Geschichten lagen Jack London im Blut. Abenteuergeschichten ernährten ihn, wenn es anderweitig an Nahrung fehlte. Und nun hatte er selber eine Wahnsinnsgeschichte zu erzählen und wollte nur noch überleben, um die nächste Geschichte zu erleben.
    Solche Gedanken spukten ihm durch den Kopf, als er an einem Morgen den nur allzu bekannten Weg zur Hütte zurückmarschierte. Es blieb nun immer länger hell, und jedes Mal, wenn die Sonne schien, fühlte er neue Lebensgeister in sich erwachen. Als er um eine Wegbiegung kam und dieHütte auf der Lichtung sah, hörte er Merritt nach ihm brüllen.
    »Jack!«, rief der große Kerl. »Jack! Wo steckst du?«
    Die Aufregung in seiner Stimme war ansteckend und nicht zu überhören. Irgendetwas war geschehen, irgendeine gute Neuigkeit. Jack fiel nur eine Sache ein, die Merritt so glücklich machen würde. Jack beschleunigte seinen Schritt und stapfte so schnell er konnte den Weg hinauf.
    »Merritt?«, rief er, als er zwischen den Bäumen hervor auf die Lichtung stürmte. Er sah sich um und wunderte sich, dass niemand zu sehen war. »Merritt, was ist denn?«
    Dann ging die Tür auf und Jim Goodman trat heraus. Er war in einen der Pelzmäntel gehüllt, die sie den Winter über genäht hatten.
    »Was brüllt er denn so?«, fragte Jim, als Jack auf ihn zugeeilt kam.
    »Keine Ahnung. Ich habe Merritt gehört, aber …«
    »Ich bin hier drüben!«, rief Merritt. Beide blickten sich um und sahen ihn um die Ecke geschlendert kommen. Der Winter war für sie alle hart gewesen, doch Merritt war trotz Gewichtsverlust immer noch ein kräftiger, imposanter Mann. Er grinste sie gut gelaunt an. »Lasst uns den letzten guten Kaffee kochen«, schlug Merritt vor. »Wir haben was zu feiern.«
    Jack packte Merritt an der Schulter. »Der Fluss?«
    Seit Wochen gingen sie täglich abwechselnd

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