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Die Wildnis

Die Wildnis

Titel: Die Wildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Golden , Tim Lebbon
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wagten sich in die Stadt hinein, auf der Suche nach einer Bleibe und einem Lager für ihre Ausrüstung. Der Gestank traf Jack hart: ungeklärtes Abwasser, faulender Abfall, der Mief von Maultieren, die im Freien gehalten wurden. Darunter roch man jedoch das Aroma von gekochtem Essen undverschütteten Getränken, und bei beiden lief ihnen das Wasser im Mund zusammen.
    Sie gingen an einem klobigen Schild vorbei, auf dem Front Street gepinselt stand, und sahen vor sich die frühen Auswüchse des Yukon-Goldrausches. Roh gezimmerte Gebäude mit hölzernen Gehwegen davor erhoben sich links und rechts der Straße. Die Vorderseiten der Gebäude versuchten alle, ihre schlampige Bauart zu verbergen. Saloons, Schneider, ein Zahnarzt, Bekleidungsgeschäfte, Märkte, Hotels, eine Wäscherei, eine ganze Stadt war an diesem wilden Fleck entstanden, dessen wahre Lebensader der Fluss war. Doch wo Jack Begeisterung und Aufbruch erwartet hatte, schienen so viele Bewohner von einer seltsamen Antriebslosigkeit erfasst zu sein, dass er schon befürchtete, irgendeine Seuche sei ausgebrochen. Manche der Männer und Frauen in den Straßen hatten einen abwesenden Ausdruck, der durch ihre ausgezehrten, hageren und lang gezogen Gesichter und ihre leeren Augen unterstrichen wurde.
    »Was haben die alle nur?«, murmelte Merritt, und Jack konnte die Besorgnis des großen Kerls gut verstehen.
    »Keine Ahnung«, antwortete Jack. »Fragen wir sie doch mal.«
    »Aber …« Merritt wollte ihn aufhalten, aber Jack war zu schnell.
    »Hallo, mein Freund«, sagte er und hielt einen Passanten an der Hand fest. Der Mann war größer als Jack, hatte eine Glatze, die voller Flecken und Schorf war, und ein mächtiger, bis zum Kinn herabhängender Schnurrbart verdeckte seinen Mund. »Was ist hier in Dawson los?« Es war eine merkwürdige Frage, aber Jack fiel keine bessere Formulierung ein.
    »In Dawson?«, erwiderte der Mann. Dem Dialekt nach war er aus Neuengland, Jack kannte den New Yorker Zungenschlag gut. »Dawson ist eine Geisterstadt.«
    »Sieht aber gar nicht wie eine Geisterstadt aus!«, sagte Jack und versuchte, begeistert zu klingen.
    Der Mann blickte von Jack zu Merritt und wieder zurück. »Gerade angekommen? Habt in der Wildnis überwintert, was?«
    »Ganz genau«, bestätigte Merritt.
    »Ihr wollt hier euren Claim abstecken und euer Gold finden, wie?«
    Jack nickte. Der Mann klang jetzt immer höhnischer, was Jack gar nicht gefiel.
    Doch dann seufzte der Mann, als ob der Spott ihn zuviel Energie kostete, und seine Augen schienen mit ihm zu seufzen. Sie waren schwach, sah Jack. Fahl. Als ob ihm dieses raue Land sogar die Farbe aus den Augen gebleicht hätte.
    »Ich bin nun fast schon sechs Monate hier«, erklärte der Mann. »Hab’s nie weiter geschafft. Was man so hört, ist es auch gar nicht nötig. Gold? Es gibt ein bisschen davon, ja. Aber schon länger keine neuen Funde. Dawson ist also nur die Endstation für die Schwachen, die bleiben dann hier hängen. Die Starken kehren um und fahren wieder heim.«
    »Wir sind aber nicht den ganzen Weg hergekommen, um wieder umzukehren«, entgegnete Jack mit wachsendem Zorn. »Wir haben das doch nicht alles durchgemacht, um …«
    »Ach, du denkst, du hast was durchgemacht?«, der Mann senkte seine Stimme und beugte sich zu ihm. »Das ist gar nichts gegen das, was du hier findest oder was danach kommt. Da gibt es Geschichten, sag ich dir …«
    »Hör mal«, sagte Jack und trat einen Schritt auf ihn zu. Er spürte den Zorn in sich aufsteigen, seine Fäuste ballten sich, und ein paar Köpfe drehten sich nach ihnen um. Doch niemand schien sich wirklich Sorgen zu machen oder sich überhaupt dafür zu interessieren, und er fragte sich, wie viele Prügeleien die Leute in Dawson jeden Tag auf der Straße sahen.
    »Komm schon, Jack«, sagte Merritt und packte ihn am Arm.
    »Ja, klar«, antwortete Jack. Er sah sich zu Merritt um und nickte. Alles klar , sagte sein Blick, doch Merritts Gesichtsausdruck sagte etwas ganz anderes. Vielleicht sah er etwas in Jack, das er noch nie zuvor gesehen hatte.
    Der Mann stapfte durch den Schlamm davon, ohne sich umzusehen. Stattdessen schaute er auf seine Füße, als ob er nichts anderes sehen wollte.
    »Erst mal suchen wir uns eine Unterkunft«, meinte Merritt. »Dann müssen wir unsere Sachen einlagern, uns ausruhen und wieder zu Kräften kommen. Wir besorgen uns etwas Obst und Gemüse, um den verdammten Skorbut zu bekämpfen. Was meinst du?«
    »Ich meine: ›Ja, klar‹«,

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