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Die Wildrose

Die Wildrose

Titel: Die Wildrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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er sie, weil sie zu spät gekommen war. Aber dafür konnte sie nichts. Auch sie hatte ihren Vater geliebt. Es war nicht ihre Absicht gewesen, ihn allein zu lassen während seiner Krankheit, und sobald sie von seinem Zustand erfahren hatte, hatte sie alles darangesetzt, so schnell wie möglich nach Hause zu kommen. Es war nicht ihre Schuld, dass Briefe nach Rongbuk so lange brauchten, vielleicht konnte sie das Albie am Ende doch noch begreiflich machen.
    Willa sah erneut auf ihre Uhr. Albie war spät dran. Hoffentlich tauchte er bald auf. Sie war hinterher mit Seamie verabredet und wollte keine Minute ihrer kostbaren Zeit vergeuden. Sie würden sich heute Abend treffen und dann in ein paar Tagen in Schottland, und sie zählte bereits die Stunden bis dahin.
    »Ich kann mir freinehmen, Willa. Eine ganze Woche lang«, hatte er vor ein paar Tagen zu ihr gesagt. »Komm mit nach Schottland. Zum Ben Nevis. Wir machen einen Kletterversuch.«
    Er erklärte ihr, dass Jennie oft zum Ausruhen in ihr Cottage in Binsey fahre und dass sie nächste Woche wieder dorthin wolle. Jetzt sei August, und die Leute machten Ferien wie auch er. Er werde sagen, dass er nach Schottland zu einer Klettertour fahre. Das sei nichts Ungewöhnliches, weil er oft zum Wandern oder Klettern gehe.
    Er würde ein Cottage in einer abgeschiedenen Gegend mieten. Sie würden getrennt anreisen, um keinen Verdacht zu erregen. Jeder von ihnen würde etwas Proviant einkaufen und sich erst in dem Cottage treffen. Sie hätten eine ganze Woche für sich. Sieben herrliche Tage. Sie würden wandern und klettern, gemeinsam essen und reden. Abends zusammen ins Bett gehen und am Morgen gemeinsam aufwachen.
    »Bitte komm mit, Willa. Sag Ja«, bat er sie.
    Sie hatte versucht abzulehnen. Sich bemüht, das Richtige zu tun, aber erneut versagt. Sie wollte bei ihm sein, und mehr als alles andere wollte sie gemeinsam mit ihm klettern. Und das würde sie auch tun.
    Auf Seamies Rat hatte Willa einen Großteil ihrer Zeit damit verbracht, sich über künstliche Gliedmaßen zu informieren. Ihre Erkundigungen hatten sie schließlich zu Marcel und Charles Desoutter geführt, zwei Brüdern, die vor Kurzem das sogenannte Duraluminium-Bein, eine Prothese aus einer Leichtmetalllegierung, erfunden hatten. Es wog nur halb so viel wie ein Holzbein und hatte ein bewegliches Knie. Aber das Beste daran war das gepolsterte Fußgelenk, das sich wie bei einem echten Fuß abbiegen und bewegen ließ.
    Willa hatte eine Prothese anprobiert und war so begeistert gewesen, dass sie sich sofort eine anpassen ließ, die sie mit dem Vorschuss von Clements Markham für ihr Everest-Buch bezahlte. Das neue Bein war mit dem alten nicht zu vergleichen. Dank seines Tragekomforts und seiner Leichtigkeit war sie am Abend weniger müde, sie hatte weniger Druckstellen, und seine Flexibilität vergrößerte ihren Bewegungsspielraum beträchtlich. Sie hoffte sogar, damit wieder klettern zu können. Deshalb konnte sie es gar nicht erwarten, es am Ben Nevis auszuprobieren.
    Willa sah auf ihre Uhr. Es war schon Viertel nach vier. Vielleicht war Albie bei der Arbeit aufgehalten worden und kam überhaupt nicht mehr. Sie würde ihm noch zehn Minuten geben. In der Zwischenzeit beschäftigte sie sich wieder mit ihrer Serviette. Sie hatte gerade einen Hasenkopf gefaltet, als eine Stimme sagte: »Hallo, Willa.«
    Willa blickte auf. »Albie?«, fragte sie verwirrt.
    Er sah erhitzt und ein wenig zerzaust aus. Wie ein Mann, der getrunken hatte, und tatsächlich hielt er zwei Gläser in den Händen. Eines stellte er vor ihr ab, dann setzte er sich ihr gegenüber und trank das andere in einem Zug aus.
    »Albie, was machst du da?«, fragte sie.
    »Trinken«, antwortete er.
    »Das sehe ich. Aber warum?«
    »Was hast du vor, Willa?«
    »In welcher Hinsicht?«, fragte sie noch verwirrter.
    »Hast du vor, zum Everest zurückzugehen?«
    »Ich bin mir nicht sicher. Noch nicht. Warum …?«
    »Weil ich finde, das solltest du. Die Beerdigung ist vorbei. Mutter kommt zurecht. Und ich finde, du solltest zurückgehen. So bald wie möglich.«
    Willa war nun vollends verwirrt – von der Frage ihres Bruders, seinem Tonfall und dem Alkoholdunst, der ihn umwehte. Ihre Verwirrung schlug jäh in Ärger um.
    »Albie, könntest du mir vielleicht erklären, was das soll? Mich derart anzufahren? Ich hab dir tausendmal erklärt, warum ich vor Vaters Tod nicht heimkommen konnte und …«
    »Ich weiß Bescheid, Willa«, unterbrach er sie.
    »Du weißt

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