Die Wildrose
nächste?«, fragte Willa.
»Um zwanzig nach neun. Welchen nehmen Sie?«
»Ich … ich weiß nicht. Was kostet eine Fahrkarte nach Edinburgh? Oder nach Calais?«
Der Schalterbeamte erklärte ihr geduldig die verschiedenen Fahrpreise, die davon abhingen, ob sie eine Kabine buchen und welche Klasse sie reisen wollte.
Wie betäubt und mit gebrochenem Herzen stand Willa am Fahrkartenschalter in King’s Cross, zwei große Koffer neben sich. Sie hatte im Coburg die Nachricht für Seamie abgegeben, war dann mit einer Droschke nach Hause gefahren, hatte schnell gepackt, sich von ihrem Bruder und ihrer weinenden Mutter verabschiedet und versprochen, bald zu schreiben.
»Aber warum fährst du plötzlich so überstürzt ab?«, fragte ihre Mutter. »Du bist doch gerade erst gekommen.«
»Ach, Mutter, das stimmt doch nicht. Ich bin eine ganze Weile hier gewesen. Ich hab meine Vorträge gehalten, den Text für mein Buch abgeschlossen und eingereicht. Es ist Zeit, wieder zurück in den Himalaja zu gehen. Ich habe noch so viel zu tun. Ich muss an meine Arbeit zurück.«
»Aber wir sollten ein Abschiedsdinner geben. Du kannst doch nicht einfach so mir nichts, dir nichts verschwinden.«
»Ich muss, außerdem sind mir lange Abschiede verhasst. Ich werde schreiben. Versprochen. Und mit etwas Glück funktioniert die Post besser als bisher. Ach, bitte, wein doch nicht, Mum. Du machst es noch schwerer, als es ohnehin schon ist.«
Albie legte seiner Mutter die Hand auf die Schulter. »Wir dürfen nicht egoistisch sein, Mutter«, sagte er. »Wir müssen an Willa denken und sie wieder zu ihrem Berg zurücklassen.«
Aber Willa ging nicht zu ihrem Berg zurück. Noch nicht. Den Gedanken, dorthin zurückzukommen und wieder etwas vor Augen zu haben, das für sie unerreichbar war, ertrug sie nicht. Stattdessen würde sie nach Paris gehen. Oder nach Edinburgh. Und sich überlegen, was sie als Nächstes tun sollte. Wichtig war nur, zwischen sich und Seamie genügend Abstand zu bringen.
»Haben Sie sich schon entschieden, Miss?«, fragte der Fahrkartenverkäufer. »Wohin geht’s?«
Sie wollte gerade Edinburgh sagen, als eine Stimme ihren Namen rief. Sie drehte sich um und sah Tom Lawrence auf sich zueilen. Er trug einen Leinenanzug und sah schneidig darin aus.
»Willa, ich dachte es mir doch, dass Sie es sind!«, rief er fröhlich. »Wie geht’s Ihnen? Ich hoffe, Sie sind in meinem Zug zur Fähre nach Calais. Ich fahre ein paar Tage nach Paris und dann nach Italien.«
»Was machen Sie dort, Tom?«
»Zuerst geht’s mit einem Dampfer in die Türkei und von dort aus durch den Bosporus nach Kairo. Das hoffe ich zumindest. Wenn die Deutschen ihn bis dahin nicht besetzt haben. Ich bin offiziell der Armee beigetreten, verstehen Sie. Ich arbeite unter General Murray im Büro für Arabische Angelegenheiten. Ich hoffe sehr, dass Sie auch meinen Zug nehmen. Ich würde unterwegs gern eine Tasse Tee mit Ihnen trinken. Und mehr über den Everest und Tibet hören.«
»Miss? Welchen Zug nehmen Sie?«, fragte der Fahrkartenverkäufer ungeduldig. »Es warten Leute hinter Ihnen.«
Willa hatte plötzlich eine Idee – eine verrückte, unmögliche Idee.
»Nehmen Sie mich mit, Tom«, sagte sie.
Lawrence sah sie verständnislos an. »Wie bitte?«
»Nehmen Sie mich mit nach Kairo. Ich will nicht nach Tibet zurück. Zumindest jetzt noch nicht. Ich möchte etwas anderes machen. Meine Reise bezahle ich selbst. Ich habe genug Geld. Und wenn ich erst einmal dort bin, würde ich gern für diese Behörde arbeiten, die Sie erwähnt haben – dieses Büro für Arabische Angelegenheiten.«
»Willa, das ist doch nicht Ihr Ernst. Das ist verdammt weit weg. Und ich kann Ihnen keine Anstellung garantieren, wenn wir dort sind.«
»Könnten Sie nichts für mich auftreiben? Ich kann Land vermessen. Karten zeichnen. Kamele reiten. Briefe tippen. Böden wischen. Abfallkörbe leeren. Irgendwas, Tom. Ich mache alles. Aber bitte, nehmen Sie mich mit.«
»Sie sind ein verdammt guter Landvermesser«, sagte Lawrence. »Und auch ein guter Navigator. Ich bin mir sicher, im Büro für Arabische Angelegenheiten gibt es etwas, wo Sie sich nützlich machen können.« Er runzelte nachdenklich die Stirn. »Na ja, General Murray wird mir den Kopf abreißen, aber was soll’s.« Er wandte sich an den Fahrkartenverkäufer und sagte: »Guten Abend, Sir. Zweimal nach Calais, bitte.«
46
M ax saß in seinem Hotelzimmer und rauchte.
Er sollte heute Abend an einem Dinner im
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