Die Wildrose
Bescheid? Was weißt du?«
»Was zum Teufel denkst du dir? Wegen Seamie.«
Willa hatte das Gefühl, sie hätte eine Ohrfeige bekommen. »Woher weißt du es?«, fragte sie kleinlaut.
»Ich hab’s mir gedacht. Nachdem ich herausgefunden habe, dass du ins Coburg gehst. Und Seamie ebenfalls.«
»Wer hat dir das gesagt?«
»Das werde ich dir nicht sagen, also frag erst gar nicht.«
Willa bedrängte ihn, aber er rückte nicht damit heraus, von wem er es wusste. Und dann fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Wie konnte sie so dumm gewesen sein? »Es war Max von Brandt, nicht wahr?« Die beiden kannten sich schließlich.
Albie antwortete nicht sofort, aber Willa konnte an seinem Gesichtsausdruck ablesen, dass sie recht hatte.
»Ja. Also gut, er war’s«, gab Albie zu. »Er hat es aber nicht absichtlich ausgeplaudert. Ich habe ihn zufällig auf der Straße getroffen, und er sagte mir, dass er dich in der Halle dieses Hotels getroffen hat, dass ihr zum Essen aus wart und dass es sehr nett gewesen sei. Und dass er Seamie ebenfalls im Coburg gesehen habe. Max mochte das vielleicht für einen Zufall halten, ich jedoch nicht. Eines Nachmittags habe ich in der Empfangshalle gewartet. Ich sah Seamie hereinkommen und den Aufzug in den dritten Stock nehmen. Zehn Minuten später bist du aufgetaucht. Und ebenfalls in den dritten Stock gefahren.«
Willa schwieg beschämt.
»Am Abend darauf ging ich zu Seamies Wohnung, um ihn zur Rede zu stellen. Er war nicht zu Hause. Nur Jennie. Sie war sehr bedrückt und hatte geweint. Ich setzte mich zu ihr, und wir unterhielten uns. Sie weiß ebenfalls Bescheid, Willa.«
»Aber das gibt’s doch nicht. Sie kann es nicht wissen. Wir waren immer so vorsichtig.«
»Offensichtlich nicht vorsichtig genug«, entgegnete Albie. »Jennie ist außer sich. Sie isst und schläft nicht mehr richtig, was nicht gut für ihr Baby ist.« Er beugte sich vor, und seine Augen blitzten vor Zorn. »Hast du je daran gedacht, Willa? Hat einer von euch beiden je daran gedacht? Habt ihr je darüber nachgedacht, welches Leid ihr anderen Menschen zufügt? Jennie? Mir? Unserer Mutter, falls sie es erfahren sollte?«
»Hör auf, Albie. Bitte.«
»Nein, ich werde nicht aufhören. Offensichtlich hat keiner von euch beiden an die anderen gedacht. Du jedenfalls tust das nie. Hast es noch nie getan. Du hast immer nur getan, was dir gefallen hat. Egal, wer dadurch verletzt wird. Egal, wer sich sorgt, leidet oder übergangen wird. Das Einzige, was für dich zählt, ist die Herausforderung. Die Erste zu sein. Den Gipfel zu erreichen. Zu kriegen, was du willst. Oder anders gesagt, Eisberge, Berge und Menschen – ja sogar Menschen – sind nur Hindernisse, die bezwungen werden müssen.«
Willa gestand sich ein, dass Albie recht hatte. Die ganze Zeit war sie extrem selbstsüchtig gewesen. Sie hatte Seamie haben wollen, also hatte sie ihn sich genommen, ohne an die Frau zu denken, mit der er verheiratet war und die sein Kind erwartete. Scham und Reue überkamen sie jetzt.
»Ich wollte sie nicht verletzen, Albie. Dich genauso wenig. Ich liebe ihn einfach. Ich liebe ihn mehr als mein Leben und wollte mit ihm zusammen sein. O Gott«, flüsterte sie und bedeckte das Gesicht mit den Händen. »Was habe ich nur getan?«
Albie musste die Qual in ihrer Stimme gehört haben, denn er wurde etwas versöhnlicher. »Du musst Schluss machen damit, Willa. Jennie zuliebe. Seamie und dem Kind zuliebe. Und auch um deinetwillen. Es ist eine ganz und gar unmögliche Situation, siehst du das nicht ein?«
Willa senkte den Kopf und nickte. Tränen liefen ihr übers Gesicht. Plötzlich bekam sie Angst. Sie, die auf den Kilimandscharo gestiegen und fast gestorben war, die an die gefährlichsten Orte gereist war und sie für sich erobert hatte. Sie hatte Todesangst, weil sie jetzt wusste, was das Schlimmste war, das ihr zustoßen konnte – nicht ein Bein zu verlieren und nicht mehr klettern zu können –, sondern den Menschen aufzugeben, den sie am meisten liebte auf der Welt. Noch einmal.
»Was soll ich nur machen?«, fragte sie ihren Bruder, obwohl sie die Antwort bereits kannte.
»Du musst fort, Willa«, sagte er. »Du musst Seamie verlassen. Du musst aus London weg. Das ist das Einzige, was du machen kannst.«
44
S eamie goss sich noch ein Glas Wein ein. Das dritte. Hörte er nicht sofort auf, dann würde er betrunken sein, wenn Willa eintraf.
Er ging zum Fenster und ließ seinen Blick über die Dächer von London
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