Die Wildrose
bei dem Anblick, der sich ihr bot. Ein riesiger Tisch, mit einem weißen Spitzentischtuch und Unmengen Teerosen aus ihrem Garten dekoriert, stand auf dem Rasen. Plaudernd und lachend, war ihre große, lärmende Familie darum versammelt. Fast alle zumindest.
Ihre Kinder. Ihr Bruder Seamie und seine Frau, die bald ihr erstes Kind bekommen würde. Joes Schwestern und Brüder mit ihren vielen Kindern. Rose und Peter Bristow, Joes Eltern. Und Fionas Schwägerin India mit ihren drei Kindern. Wenn nur ihr Bruder Sid auch hier sein könnte.
Alle waren versammelt, um Roses Geburtstag zu feiern, und bei ihrem Anblick spürte Fiona, wie ihr vor Liebe und Dankbarkeit das Herz aufging. Und sie, die so oft mit Gott gehadert hatte, schickte ein schnelles und inniges Dankgebet zum Himmel – danke für diese Menschen, danke für diesen unglaublichen Tag und danke, dass die Zwillinge nicht vom Baum gefallen sind.
Sie unterhielt sich eine Weile mit Rose, die völlig hingerissen war von Elizabeth, erlaubte den Zwillingen, Blindekuh zu spielen, bewunderte die neueste Ausgabe von Katies Zeitung, die ihre Tochter an fast alle Anwesenden verteilt hatte, und setzte sich dann, um mit India ein Glas Punsch zu trinken. In diesem Moment kam Sarah zu ihr und sagte: »Entschuldigen Sie, Madam. Das Geschirr vom Abendessen ist abgeräumt. Soll ich die Torte jetzt servieren?«
»Ja, Sarah, bringen Sie sie. Nein! Warten Sie einen Moment. Wo ist Mr Bristow? Er sollte auch dabei sein.«
Fiona stellte fest, dass sie Joe schon seit mindestens einer Stunde nicht mehr gesehen hatte.
»Hast du ihn gesehen, Ellen?«, fragte sie seine Schwester. Aber Ellen verneinte. Seit Beginn des Festes nicht mehr.
»Er muss in seinem Arbeitszimmer sein und arbeiten, wie immer«, sagte Fiona. »Ich hole ihn. Warten Sie bitte mit der Torte, Sarah, bis ich zurück bin.«
Fiona eilte ins Haus und in Joes Arbeitszimmer, aber dort war er nicht. Sie sah in ihrem Schlafzimmer nach, ob er sich kurz hingelegt hatte, aber auch dort war er nicht.
Als sie wieder nach unten ging und zufällig durch das große runde Fenster im zweiten Stock blickte, entdeckte sie ihn. Er saß in seinem Rollstuhl im Obstgarten. Allein.
»Was macht er bloß dort unten?«, fragte sie sich ein wenig verärgert. Das sah ihm wieder einmal ähnlich, sich davonzustehlen und seine Obstbäume zu bewundern, wenn der Geburtstagskuchen seiner Mutter aufgetragen werden sollte.
Sie eilte die Treppe hinab, über den Rasen und den kleinen Hügel hinunter, der zum Obstgarten führte. Joe hatte die Bäume vor Langem gepflanzt, Jahre bevor er und Fiona geheiratet hatten. In ein oder zwei Monaten würden sie und die Kinder Äpfel und Birnen pflücken können.
Joe saß am anderen Ende des Obstgartens, wo sich der Garten zur Themse hin öffnete. Er starrte auf das Wasser, das Gesicht in den klaren Abendhimmel erhoben. Es war fast acht Uhr. Das letzte Licht begann zu schwinden. Bald würden die ersten Sterne aufgehen. Fiona hätte Joe seinem Vergnügen überlassen, wenn sie nicht so wütend auf ihn gewesen wäre.
»Joe!«, rief sie laut und winkte ihm zu. Er musste sie gehört haben, antwortete aber nicht. Er drehte sich nicht einmal um.
Ärgerlich schürzte sie ihre Röcke und begann zu laufen. Als sie etwa zehn Meter entfernt von ihm war, rief sie ihn noch einmal.
»Joe Bristow! Hast du mich nicht gehört? Der Kuchen für deine Mutter wird gleich serviert, und …«
Joe drehte sich um, und sie bekam kein Wort mehr heraus. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck tiefster Verzweiflung. Sie sah, dass er ein Stück Papier in den Händen hielt. Ein Telegramm, wie es schien.
»Joe, was ist? Was ist passiert?«, fragte sie bestürzt.
»Ach, Fee, bald wird sich alles ändern. Alles wird zu Ende gehen«, antwortete er leise.
»Was denn, Liebster? Was wird sich ändern?«
»Das hier. Unser Leben. Das der anderen. England. Europa. Alles. Es hat angefangen«, erklärte er. »Vor drei Tagen hat Deutschland Russland und Frankreich den Krieg erklärt.«
»Das weiß ich«, antwortete Fiona. »Das weiß die ganze Welt. Es stand in allen Zeitungen. Aber England ist davon nicht betroffen. Wir haben immer noch Hoffnung, Joe. Der Krieg findet nur auf dem Kontinent statt, und es besteht immer noch die Chance, ihn einzudämmen.«
Joe schüttelte den Kopf. »Die Deutschen sind heute Morgen in Belgien einmarschiert. In ein neutrales Land. All unsere diplomatischen Bemühungen sind fehlgeschlagen.« Er reichte ihr das Papier in
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