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Die Wildrose

Die Wildrose

Titel: Die Wildrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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Umschlag vor sich. Im Haus war es still und außer dem Ticken der Uhr auf dem Kaminsims nichts zu hören. Eigentlich sollte sie den Umschlag in den Keller der Kirche zu seinem üblichen Versteck bringen. Stattdessen hatte sie ihn über Dampf geöffnet, aber den Inhalt noch nicht herausgenommen. Weil sie sich zu sehr fürchtete.
    Es gäbe kein Zurück mehr, wenn sie gelesen hätte, was sich darin befand. Dann würde sie wissen, wer Max von Brandt tatsächlich war. Und wer sie in Wirklichkeit war. Ob sie ihm geholfen hatte, das Leben unschuldiger Deutscher zu retten, oder am Tod ihrer Landsleute mitschuldig war.
    »Das hättest du schon vor Jahren tun sollen«, flüsterte sie. Aber es war leichter gewesen, es nicht zu tun. Leichter, die Augen vor der Wahrheit zu verschließen und zu glauben, sie tue Gutes. Leichter, sich mithilfe von Max ihrer Rivalin zu entledigen, als sich seine Feindschaft einzuhandeln und die Wahrheit über James’ Identität ans Licht kommen zu lassen.
    Als sie nach dem Umschlag griff, wurde ihr plötzlich übel. Sie lief zur Spüle und übergab sich. Als das krampfhafte Würgen nachließ, spülte sie den Mund aus, wischte sich das Gesicht ab und setzte sich wieder. Seitdem Sid mit den Neuigkeiten nach Brambles zurückgekehrt war, ging es ihr schlecht. Ihre Kopfschmerzen und das saure Gefühl im Magen waren jedoch schlimmer geworden, und jetzt fühlte sie sich auch noch fiebrig. Alles sicher eine Reaktion auf den Schock nach Sids Verdächtigungen gegen Max.
    »Damit muss Schluss sein«, sagte sie zu sich selbst. »Sofort.«
    Sie zog den Inhalt des Umschlags heraus und betete inständig, dass alles so wäre, wie Max es versichert hatte. Doch was sie sah, bestätigte ihr, dass dies keineswegs zutraf.
    Der Umschlag enthielt Durchschläge von Briefen von Sir George Burgess an Winston Churchill, den Ersten Seelord, und an andere hochrangige Marineoffiziere, Kabinettsmitglieder und den Premierminister persönlich. Darin ging es um Informationen über die Verlegung britischer Schiffe, den Umfang ihrer Mannschaft, die Anzahl und Größe ihrer Kanonen und ihre Einsatzziele.
    Jennie las die Namen der Schiffe: Bellerophon, Monarch, Conqueror, Colossus und Exeter. Einige waren im Atlantischen Ozean stationiert. Einige im Mittelmeer. Es gab Informationen über britische Ölfelder im Mittleren Osten, über deren Leistungsstärke und Sicherheit.
    Aber es gab keinerlei Ausweispapiere. Keine Namen sicherer Unterkünfte in Deutschland oder Frankreich. Keine Kontaktadressen von Leuten in Großbritannien, die Wohnung und Arbeit für die Widerstandskämpfer bereitstellten, die aus Deutschland herausgeschmuggelt worden waren.
    Es war alles eine Lüge.
    Jennie stopfte die Durchschläge wieder in den Umschlag zurück und steckte ihn in ihre Handtasche. Sie ertrug seinen Anblick nicht. Dann verbarg sie ihr Gesicht in den Händen und stöhnte auf vor Entsetzen. Was hatte sie nur getan? Wie viele Informationen hatte sie an Berlin weitergegeben? Wie viele Männer hatte sie mit in den Tod befördert?
    Sie war am Boden zerstört vor Schuldgefühlen und krank vor Reue. Natürlich sollte sie den Umschlag sofort zu Joe, ihrem Schwager, bringen. Er würde wissen, was damit zu tun wäre. Aber sie hatte auch Angst. Wenn sie Joe den Umschlag gab, würden die Behörden wissen wollen, woher er ihn hatte. Und ihm bliebe nichts anderes übrig, als es ihnen zu sagen. Würde man sie einsperren? Und was wäre mit ihrem Vater? Es war seine Kirche, die sie für die Übergabe der Dokumente genutzt hatte. Würde man ihn ebenfalls verhaften? Und wenn ja, was würde aus James werden?
    Ihr Magen verkrampfte sich wieder, und sie versuchte, die Übelkeit niederzukämpfen, die ihre Eingeweide in Aufruhr versetzte. Im gleichen Moment kam ihr eine weitere schreckliche Erkenntnis – diese Schiffe, die in Burgess’ Briefen erwähnt wurden, waren im Atlantik stationiert, aber auch im Mittelmeer.
    Im Mittelmeer.
    »Dort ist doch Seamie«, sagte sie laut.
    Jennie kannte den Namen seines neuen Schiffes nicht. Das durfte er in seinen Briefen nicht mitteilen, aber sie wusste, dass er an Bord ginge, sobald seine Verletzungen nach dem Angriff auf die Hawk verheilt wären. Vielleicht war er schon an Bord und patrouillierte wieder an der arabischen Küste entlang. Und dank der Bemühungen von Max – und dank ihrer eigenen – während der letzten Jahre warteten vielleicht schon deutsche U -Boote auf ihn.
    »O Gott«, rief sie aus. »O Seamie,

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