Die Wildrose
nein.«
Plötzlich erkannte sie mit niederschmetternder Klarheit, was sie getan hatte: Sie hatte Max von Brandt geholfen, weil sie vermeiden wollte, dass er Seamie die Wahrheit über James erzählte, aber gerade durch den verzweifelten Versuch, den Mann zu halten, den sie liebte, hatte sie ihn vermutlich dem Untergang geweiht.
Sie beugte sich hinunter und nahm ihre Handtasche. Sie wusste, was sie zu tun hatte. Sie würde den Umschlag Joe bringen. Jetzt gleich. Burgess und die Admiralität mussten erfahren, dass die Deutschen alles wussten und die britischen Schiffe sich in größerer Gefahr befanden, als irgendjemand ahnte.
Als Jennie ihren Mantel anzog, wurde ihr wieder so schlecht, dass sie sich erneut übergeben musste. Danach blieb sie ein paar Minuten zitternd und nach Luft ringend am Spülstein stehen. Als sie wieder atmen konnte, öffnete sie die Augen und sah Blut in der Spüle.
Sie strich über die Lippen, aber ihre Finger waren sauber. Dann stellte sie fest, dass das Blut aus ihrer Nase kam. Sie zog ein Taschentuch heraus, um die Blutung zu stillen, aber sie wurde noch stärker. Während sie das Tuch ans Gesicht drückte, verschwamm der Raum plötzlich vor ihr.
»Mummy?«, fragte eine Stimme.
Jennie drehte sich um.
»Ich habe ein Geräusch gehört«, sagte James. »Mummy, deine Nase blutet.«
»James …« Sie nahm ihren Sohn nur ganz verschwommen wahr, und er wirkte wie weit entfernt.
»Was ist, Mummy? Was ist los?«
»James«, erwiderte Jennie, bevor ihre Beine nachgaben. »Lauf und hol Großvater …«
90
W o bin ich?«, fragte Jennie und blickte sich um. Sie lag in einem Bett, das nicht ihr eigenes war, in einem Nachthemd, das nicht ihr gehörte, in einem Raum, den sie nicht kannte, neben Leuten, die sie noch nie gesehen hatte.
Verängstigt setzte sie sich auf, schwang die Beine über den Bettrand, um aufzustehen, wurde aber von einem so starken Hustenanfall gepackt, dass sie atemlos wieder zurücksank.
»Mrs Finnegan!«, sagte eine Stimme. »Bitte bleiben Sie liegen. Sie müssen vermeiden, den Hustenreiz auszulösen.«
Jennie blickte auf und sah eine junge Frau, eine Krankenschwester, die sich über sie beugte. Sie trug eine weiße Baumwollmaske über dem Gesicht.
»Wo bin ich? Was ist passiert?«, fragte Jennie von Panik ergriffen.
»Sie sind im Krankenhaus, Mrs Finnegan. Auf der Quarantänestation. Sie sind sehr krank. Sie haben die Grippe. Die Spanische Grippe«, antwortete die Schwester.
»Die Grippe? Mein Gott!«, stieß Jennie aus und sackte auf ihr Kissen zurück.
Jetzt fiel es ihr wieder ein. Sie stand in der Küche ihres Vaters, vollkommen entsetzt darüber, was sie über Max von Brandt erfahren hatte. Sie erinnerte sich, dass sie sich erbrochen hatte, dass ihr schwindlig geworden und alles voller Blut war.
»Welcher Tag ist heute? Wie bin ich hergekommen?«, fragte sie. Dann kam ihr ein ganz beängstigender Gedanke. »Wo ist mein Sohn? Wo ist James?«
»Bitte beruhigen Sie sich, Madam. Alles ist gut«, antwortete die Schwester. »Heute ist Mittwoch. Ihr Vater hat sie gestern Nacht hergebracht. Er wollte bei Ihnen bleiben, aber das konnten wir natürlich nicht zulassen. Ich soll Ihnen ausrichten, dass eine Nachbarin, eine Mrs Barnes, gestern Abend bei James geblieben ist. Und dass er den Jungen im Lauf des Tages zu Ihrer Schwägerin – einer Mrs Bristow – bringen wird.«
Jennie war erleichtert. James befand sich in guten Händen. Man würde gut für ihn sorgen.
»Ich bin übrigens Schwester Connors«, sagte die Krankenschwester. »Eine der Schwestern, die sich um Sie kümmern werden.«
Jennie nickte. »Sind meine Sachen hier?«, fragte sie. »Meine Handtasche?«
»Nein. Ihr Vater hat nichts mitgebracht. Brauchen Sie etwas? Kann ich Ihnen etwas besorgen?«
»Hören Sie«, erwiderte Jennie eindringlich. Es war ihr wieder eingefallen – ihr Entschluss, Max von Brandt aufzuhalten, die Übermittlung militärischer Geheimnisse nach Berlin zu stoppen. »Sie müssen meinen Schwager herholen. Joseph Bristow. Er ist Parlamentsabgeordneter. Etwas Schlimmes geht vor sich, und er muss sofort davon erfahren.«
»Er darf die Quarantänestation nicht betreten, fürchte ich«, widersprach Schwester Connors sanft.
»Ich muss ihm eine Nachricht zukommen lassen. Kann ich ihm schreiben?«
»Ich glaube nicht. Wir dürfen nichts weitergeben, das von Infizierten berührt wurde.«
»Was soll ich dann machen?«, fragte Jennie aufgewühlt.
»Ich kann nicht einfach
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