Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Wildrose

Die Wildrose

Titel: Die Wildrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
Vom Netzwerk:
ihre Mutter. Sie war oft niedergeschlagen, aber die Tränenausbrüche und Angstzustände hatten in letzter Zeit zugenommen. Erst gestern hatte sie mit Dr. Morse darüber gesprochen, und der meinte, Niedergeschlagenheit sei bei Menschen, die ans Haus gefesselt seien, ganz üblich. Sie hatte auch gefragt, ob es Hoffnung gebe, dass sich die schwere Lähmung ihrer Mutter – Parkinson’sche Krankheit, nannte der Arzt sie – jemals bessern würde.
    »Ich fürchte nicht, Miss Bigelow«, antwortete er. »Parkinson ist eine fortschreitende Krankheit. Sie führt zur Degeneration des zentralen Nervensystems. Die motorischen Fähigkeiten und das Sprechvermögen werden sich noch weiter verschlechtern. Darauf müssen Sie sich einstellen.«
    Gladys wusste nicht, was sie machen sollte, wenn sich der Zustand ihrer Mutter noch weiter verschlechterte. Es war jetzt schon schwierig genug, sie zu versorgen. Sie wäre gern den ganzen Tag bei ihr zu Hause geblieben, aber das war nicht möglich. Sie musste arbeiten. Sie brauchten das Geld, das sie verdiente. Die Nachbarn kümmerten sich tagsüber rührend um sie, aber was würde geschehen, wenn sie gar nicht mehr laufen, nicht mehr sprechen und essen konnte?
    Gladys seufzte. Darüber wollte sie jetzt nicht nachdenken. Nicht heute Abend. Jetzt würde sie das Abendessen kochen. Dann abspülen und ihre Mutter ins Bett bringen. Dann den Boden scheuern und ein paar Sachen waschen. Irgendwas, um sich zu beschäftigen und nicht zu viel nachzudenken.
    Sie stellte Wasser auf und drehte lächelnd den Schalter ihres neuen Herds an. Den hatte sie erst letzte Woche gekauft, nachdem der alte schließlich den Geist aufgegeben hatte und der Mann bei Ginn’s Haushaltsgeräten meinte, es wäre besser, einen neuen zu nehmen, als den alten zu reparieren. Also war sie seinem Rat gefolgt und hatte sich ein Luxusmodell geleistet. Den besten Herd im ganzen Laden, wie Mr Ginn betonte – aus cremefarbener Emaille mit ein paar grünen Verzierungen, vier Brennern, einem Grill und einem geräumigen Backofen. Es war ein Gasherd und so viel praktischer als der alte Kohleofen. Auf eine Sache müsse man aber achten, sagte Mr Ginn, und zwar, dass die Schalter nach Gebrauch immer ganz zugedreht seien.
    »Andernfalls sterben Sie an Gasvergiftung, Gladys«, erklärte er, »und das wollen wir doch nicht. Schließlich sind Sie eine meiner besten Kundinnen!«
    Das stimmte. Letztes Jahr hatte sie den Eisschrank bei ihm gekauft.
    Nachdem die Kartoffeln kochten und die Erbsen auf dem Herd standen, deckte sie den Tisch. Dann öffnete sie die Post. Es gab eine Rechnung vom Gaswerk und ein Angebot von der Bank für Kriegsanleihen. Und einen weiteren Umschlag, klein und lederfarben, mit ihrem Namen und ihrer Adresse, aber ohne Absender. Er war in Camden Town abgestempelt und gestern aufgegeben worden. Verwundert machte sie ihn auf und stieß einen kleinen Schrei aus, als sie sah, was er enthielt.
    »Gladys? Warst du das?«, rief ihre Mutter aus dem Wohnzimmer. »Alles in Ordnung?«
    Gladys schluckte. »Ja, alles bestens, Mum!«, rief sie zurück. »Ich habe mich bloß am Topfhenkel verbrannt.«
    »Sei vorsichtig, mein Schatz.«
    »Ja, ja.«
    Gladys starrte auf das hässliche Foto in ihrer Hand. Es zeigte sie. Max von Brandt hatte es vor fast vier Jahren in einer Pension in Wapping aufgenommen. Angewidert drehte sie es um. Doch auf der Rückseite stand nichts. Und es lag auch sonst nichts in dem Umschlag. Keine Nachricht. Aber das war nicht nötig. Es war eine Warnung. Irgendetwas war schiefgelaufen. Und die Person, die ihr das Foto schickte, teilte ihr mit, dass sie den Fehler lieber wieder geradebiegen sollte.
    Aber was konnte schiefgelaufen sein? Es musste etwas mit Jennie Finnegan zu tun haben, dessen war sie sich sicher. Sofort fiel ihr der vergangene Abend wieder ein und das Gespräch im Bus nach der Versammlung mit den Frauenrechtlerinnen. Den ganzen Tag über hatte sie an nichts anderes denken können.
    Jennie wollte sie über Max ausfragen. Sie wollte wissen, was in dem Umschlag war, den Gladys ihr gegeben hatte. Sie hatte sogar angedeutet, sich an die Behörden zu wenden. Hatte sie das getan? War sie tatsächlich so dämlich gewesen? Gladys hatte sie gewarnt. Ihr befohlen, den Umschlag nicht zu öffnen und ihn so abzuliefern wie immer, oder sie würde erleben, wozu Max von Brandt fähig war. Sicher hatte Jennie auf sie gehört.
    Aber wenn Jennie auf sie gehört hatte, warum hatte man dann das Foto an sie

Weitere Kostenlose Bücher