Die Wildrose
illa hörte eine Frau leise singen. Das Lied hatte sie schon einmal gehört, aber sie erinnerte sich nicht mehr daran, wann und wo. Sanfte Hände tupften ihre Stirn, ihre Wangen und ihren Hals ab. Ihr Körper fühlte sich kühl an. Das schreckliche Brennen war vorbei. Sie fühlte sich leicht, so leicht wie eine Wüstenbrise. Sie glaubte, im klaren Wasser einer Oase zu schweben, mit Seamie neben sich. Hier wollte sie für immer bleiben. An diesem wunderbaren Ort. Mit Seamie. Und dennoch konnte sie das nicht, weil etwas nicht in Ordnung war. Weil sie sich an etwas erinnern, etwas tun musste.
Sie setzte sich keuchend auf und öffnete die Augen. »Lawrence«, krächzte sie heiser. »Die Karten … ich muss zu Lawrence …« Schwindel packte sie bei der abrupten Bewegung. Sie stöhnte.
»Langsam, Willa Alden«, sagte eine Frauenstimme. »Leg dich wieder hin.«
Willa blickte in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Eine Beduinenfrau stand dort und wrang ein Tuch über einem Becken aus. Lächelnd drehte sie sich um. Willa kannte das Gesicht.
»Fatima?«, fragte sie ungläubig. »Bist du das?«
»Ja.«
»Fatima, ich muss zu Lawrence. Ich muss ihm die Karten zeigen. Ich muss los.«
Fatima eilte an ihr Lager und bettete Willa wieder auf ihr Kissen. »Alles ist gut. Jetzt leg dich hin.«
»Aber da ist eine Falle. Die Türken erwarten Lawrence!«
»Lawrence ist in Sicherheit. Faisal, Auda, Khalaf al Mor, alle sind in Sicherheit. Erinnerst du dich nicht?«
»Nein. Ich … ich erinnere mich an gar nichts mehr. Alles ist so verschwommen. Wo sind sie?«
»In Damaskus natürlich.«
Willa sah sie verständnislos an.
Fatima lächelte. »Sie haben die Stadt erobert, Willa. Damaskus ist in Händen der Briten und der Araber, endlich gehört es wieder den Arabern. Allah sei gepriesen!«
Willa schloss die Augen. Sie stieß einen Freudenschrei aus, dann lachte sie laut auf und musste schließlich husten.
»Beruhige dich bitte«, tadelte Fatima sie. »Du warst sehr krank. Du hattest Cholera. Wir haben um dein Leben gebangt. Mehr als einmal. Du bist noch nicht außer Gefahr und brauchst noch viele Tage Ruhe.«
»Sag mir, was passiert ist, Fatima. Ich erinnere mich nur noch, dass ich in einem Dorf mit Ziegenherden war, und dann an nichts mehr.«
»Du bist fast den ganzen Weg zu Lawrence’ Lager geritten«, erklärte Fatima, »aber es war sein altes Lager. Lawrence’ Leute haben dich gefunden, obwohl du schon halb tot warst, also wundert es mich nicht, dass du dich an nichts erinnerst. Du hast von Karten geredet. Daher hat Lawrence deine Satteltaschen durchsucht, als man dich hierherbrachte. Er hat alles gefunden, was du ihm mitgebracht hast. Er hat gesehen, wo sich die Türken versteckt hielten, und die Falle, die sie ihm stellen wollten.«
»Was hat er gemacht?«
»Er ist ihr ausgewichen! Beni Sakhr, Howeitat, Rwala – alle sind mitgeritten. Sie sind der Gefahr entkommen. Der englische Scheik Allenby ist in Damaskus zu ihnen gestoßen, und gemeinsam haben sie die Stadt eingenommen.«
»Sie haben es also geschafft, Fatima«, flüsterte Willa.
»Ja, das haben sie. Deinetwegen, Willa Alden. Wenn du die Karten nicht gebracht hättest, wären sie den Türken direkt in die Arme gelaufen und vernichtet worden.«
»Woher weißt du das alles?«, fragte Willa.
»Khalaf al Mor hat einen Boten aus Damaskus geschickt. Hier, trink das. Du brauchst jetzt Wasser.«
Fatima half ihr, sich etwas aufzurichten, und hielt ihr das Glas an den Mund.
Willa bedankte sich.
»Nicht der Rede wert«, antwortete Fatima, »das bisschen Wasser.«
»Ich wollte mich bedanken, weil du mein Leben gerettet hast, Fatima. Die meisten Leute sterben an der Cholera. Ich verdanke dir mein Leben.«
»O nein. Nicht mir«, erwiderte Fatima. »Ich habe sehr wenig getan. Der Dank gebührt jemand anderem.«
»Wirklich? Wem?«
»Seamus Finnegan.«
Willa glaubte wieder zu halluzinieren. »Was hast du gesagt?«
»Seamus Finnegan. Er war in Haifa, als er hörte, was dir passiert ist. Offensichtlich war auch dein Bruder in Haifa und hat erfahren, dass dein Flugzeug in der Wüste abgestürzt ist.« Sie erklärte ihr, wie Seamie nach ihr gesucht und sie schließlich gefunden hatte. »Er hat dich hierhergebracht und irgendwie, nur Allah weiß, wie, verhindert, dass du gestorben bist. Ich bin erst gekommen, als das Schlimmste schon vorbei war.«
Seamie hier bei ihr. In der Wüste. Sie konnte es nicht fassen. Es war so unwirklich, dass ihr erneut schwindlig
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