Die Wildrose
zurück und wird James irgendwie aufstöbern und ihn entführen«, schluchzte Josie. Tränen quollen aus ihren Augen. »Lass das nicht zu, Willa. Lass nicht zu, dass er sich James schnappt.«
»Beruhige dich, Josie, bitte …«
»Ich hab die Briefe versteckt«, stieß sie hervor, inzwischen hysterisch. »Diejenigen, die mir Jennie geschickt hat. Billy hat die ganze Wohnung auseinandergenommen, aber sie nicht gefunden. Sie sind in meiner Schmuckschatulle. Nimm sie. Da steht Jennies Adresse drauf. Sag ihr, was passiert ist. Es ist auch Geld drin. Nimm es, Willa. Fahr zu ihr. Warn sie. Schnell.«
»Wo, Josie? Wo ist deine Schmuckschatulle?«, fragte Willa. Sie würde sie finden. Das würde Josie beruhigen.
»Im Wohnzimmer.«
Willa lief in den anderen Raum und suchte in dem Chaos nach der Schatulle. Sie fand sie neben dem Fenster, aber sie war leer. Der Schmuck war auf den Boden gekippt worden. Es waren keine Briefe darin, kein Geld, nichts.
»Verdammt!«, zischte Willa. »Wo sind sie?« Sie versuchte, die Schatulle auseinanderzureißen. Sie riss das Futter, die Schubladen und Fächer heraus, fand aber nichts. Sie hob die Schatulle hoch und schleuderte sie zu Boden. Einmal, zweimal. Beim dritten Mal zersplitterte der Boden. Sie brach die Teile auseinander, und da waren sie – ein Stapel Briefe, ordentlich mit einer Schleife zusammengebunden, und ein kleiner Lederbeutel mit aufgerollten Franc- und Pfundnoten.
Willa zog einen Brief heraus und schaute auf die Rückseite, voller Angst, was sie darauf lesen würde. »O nein. O Gott«, stammelte sie. Die Absenderadresse war in London. Willa kannte sie. Es war Seamies frühere Adresse. Auch den Namen kannte sie. Finnegan. J. Finnegan. Jennie war gestorben, aber davon wusste Josie nichts. Und Jennie war mit Seamie verheiratet gewesen. Und ihr Sohn … James … ist der Junge, hinter dem Madden her ist. Und Seamie hatte keine Ahnung davon.
»Hast du sie gefunden?«, fragte Josie mit schwacher Stimme, als Willa ins Schlafzimmer zurückkam.
»Ja«, antwortete Willa und legte die Briefe und das Geld auf Josies Nachttisch.
»Du musst sie warnen. Versprich’s mir!«
Willa brachte es nichts übers Herz, Josie zu sagen, dass ihre Freundin nicht mehr lebte. »Ich verspreche es, Jo. Ich schwöre es. Ich unternehme etwas. Ich rufe sie an oder schicke ihr ein Telegramm. Gleich. Aber vorher muss ich mich um dich kümmern.«
Auf Josies Kleidern und dem Bett war eine Menge Blut. Zu viel Blut.
»Was soll ich bloß machen? Was zum Teufel soll ich bloß tun?«, murmelte sie vor sich hin. Dann blitzte ein Bild vor ihrem geistigen Auge auf – ihr Pillenfläschchen. Sie hatte drei Morphiumpillen genommen. Kein Wunder, dass sie nicht klar denken konnte. »Los, Willa, reiß dich zusammen«, ermahnte sie sich selbst laut. »Denk nach.«
Zwei Sekunden später war sie draußen auf dem Treppenabsatz und hämmerte gegen die Tür des Nachbarn. Ein Mann öffnete. Schnell informierte sie ihn, dass ihre Freundin überfallen und schwer verletzt worden sei und dass sie einen Arzt brauche. Der Mann sagte, im obersten Stockwerk wohne ein Arzt, und lief hinauf, um ihn zu holen. Kurz darauf war er an Josies Bett. Ihr Angreifer habe ihr eine Vene am Kinn verletzt, erklärte er Willa, daher komme das meiste Blut. Er würde sie veröden und dann die schlimmsten Wunden im Gesicht nähen.
»Sie erholt sich wieder«, beruhigte er Willa. »Aber sie hätte verbluten können, wenn ich nicht rechtzeitig gekommen wäre.«
Während sich der Arzt an die Arbeit machte, eilte Willa in Josies Wohnzimmer zurück. Das Telefon lag auf dem Boden. Sie betete, dass es noch funktionierte. Sie legte den Hörer auf, nahm ihn gleich wieder ab und rief die Vermittlung an. Fast im selben Moment hörte sie die Stimme einer Frau und bat sie, eine Verbindung zu dem Teilnehmer herzustellen, den sie auf dem Briefumschlag gelesen hatte. Aber das ging nicht. Die Nummer sei aufgegeben worden. Sie bat um eine Verbindung zu Miss Edwina Alden, in Highgate House, Carlton Way in Cambridge.
Nach ein paar Minuten meldete sich in der knisternden Leitung eine fern klingende männliche Stimme: »Highgate House. Hallo?«
»Albie?«, rief Willa. »O Gott sei Dank!«
Es folgte eine Pause. »Willa? Bist du das?«
»Ja, ich bin’s, Albie. Ich brauche deine Hilfe. Du musst unbedingt Seamie erreichen. Sein Sohn James ist in großer Gefahr. Er ist nicht sein leiblicher Sohn. Der Junge wurde Jennie von einer anderen Frau überlassen – von
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