Die Wildrose
lieben könnte, und beschloss, die zerstörerische Sehnsucht nach ihr aufzugeben und die Liebe anzunehmen, die Jennie ihm bot. Seine Erinnerungen an Willa – den Klang ihres Lachens, ihren Anblick beim Klettern, den Geschmack ihrer Lippen – verschloss er tief in seinem Inneren an einem verborgenen Ort, den er nie mehr öffnen würde.
Zum ersten Mal seit vielen Jahren fühlte er sich im Frieden mit sich – ruhig, leicht und unbeschwert. Nicht hektisch und nervös. Nicht so, als blute er innerlich aus einer Wunde, die niemals heilte.
Ja, sagte er sich jetzt, als er Jennies Hand drückte, ich habe mich getäuscht all die Jahre. Schließlich hatte er doch die Liebe gefunden. Und das Glück. Bei der Frau, die neben ihm saß. Willa Alden gehörte der Vergangenheit an. Seine Zukunft lag an der Seite von Jennie Wilcott.
Mrs Alden entschuldigte sich, um ein paar gerade eingetroffene entfernte Verwandte zu begrüßen, und Jennie fragte Seamie, ob er noch eine Tasse Tee haben wolle.
»Nein, danke, Liebling. Ich hatte schon drei und platze gleich. Ich gehe mal kurz raus. Bin gleich wieder zurück.«
Auf dem Weg zum Waschraum kam er am Salon vorbei, wo Admiral Alden lag, und hörte Stimmen von drinnen – die eines Mannes und einer Frau. Sie klangen angespannt. Wurden lauter und plötzlich wieder leiser. Er eilte vorbei und dachte, dass es ihn nichts anging, was dort diskutiert wurde, und dass die Leute sicher bald wieder gehen würden.
Doch als er auf dem Rückweg abermals am Salon vorbeikam, stellte er fest, dass die Stimmen noch lauter geworden waren. Zumindest eine – die des Mannes. Zu seiner Überraschung wurde ihm klar, dass er die Stimme kannte – sie gehörte Albie.
Besorgt um seinen Freund, steckte er den Kopf durch die Tür und sah Albie, der auf und ab ging. Ein anderer Mann war bei ihm, ein seltsam aussehender Bursche, groß und dünn, in weiten Hosen, einer roten Baumwolljacke und einem Tuch, das um seinen Kopf geschlungen war. Seamie sah den Mann nur von hinten, aber er wirkte staubig und ungepflegt, als hätte er eine lange Reise hinter sich. Seamie fragte sich, wo die Frau war. Er hätte schwören können, auch eine Frauenstimme gehört zu haben.
Die Diskussion dauerte an, bloß dass sie sich jetzt eher wie ein Streit anhörte und eigentlich nur Albie sprach. Er wirkte wütend, versuchte aber, sich zu beherrschen.
Warum belästigte ihn dieser Mensch? Jetzt? In so einem schmerzlichen Moment? Aufs Höchste besorgt, trat Seamie in den Raum. Im selben Augenblick machte der seltsame Mann ein paar zögernde Schritte auf den Sarg zu, und Seamie bemerkte, dass er leicht hinkte.
Wie ein schmerzhafter Stromschlag durchfuhr es Seamie, als ihm klar wurde, wer dieser Mann war. Er versuchte, schnell zurückzuweichen, aus dem Salon zu entkommen, bevor man ihn bemerkte, stieß aber in seiner Hast ein Gestell mit einer schweren chinesischen Vase um. Die Vase schwankte, und bevor er sie auffangen konnte, fiel sie zu Boden und zerbrach. Die Person drehte sich um. Sie riss die grünen, vom Weinen verquollenen Augen auf, als sie ihn erkannte.
»Hallo, Seamie«, sagte Willa Alden.
24
S eamie blieb wie angewurzelt stehen, und die widerstrebendsten Gefühle umtosten sein Innerstes wie ein arktischer Sturm. Er empfand Schmerz und Wut für das, was sie ihm und den anderen angetan hatte. Und Liebe. Vor allem empfand er Liebe.
Er liebte sie. Immer noch. Genauso wie damals, als er es ihr auf dem Gipfel des Kilimandscharo zum ersten Mal gestanden hatte. Genauso wie damals, als sie ihm Lebewohl gesagt hatte.
»Hallo, Willa«, begrüßte er sie leise, unfähig, den Blick von ihr zu wenden.
Willas Gesichtszüge verzerrten sich, als sie ihn ansah. Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie machte einige zögernde Schritte auf ihn zu und blieb dann stehen.
»Die verlorene Tochter ist zurückgekehrt«, sagte Albie ärgerlich und brach das Schweigen.
Willa zuckte wie getroffen zusammen. Albie schien es gleichgültig zu sein, dass er sie verletzt hatte. Statt die Schwester zu umarmen, die er jahrelang nicht gesehen hatte, hielt er sie auf Abstand.
Seamie erinnerte sich an das letzte Mal, als sie zusammen waren, im Pick. Es schien ewig her zu sein. Seamie und Albie hatten dort etwas getrunken. Willa und George waren unerwartet hereingeschneit. Sie trug damals Männerkleider – Tweedhosen und einen ausgebeulten Pullover. Ihr braunes Haar war kurz geschnitten, was ihren langen Schwanenhals und ihre hohen Wangenknochen
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