Die Wohlgesinnten
einfachen Zweireiher, den nur das goldene Parteiabzeichen schmückte. Er war in Begleitung einiger Zivilisten, die in der Stuhlreihe hinter Ohlendorf und Hanke Platz nahmen, während Speer das Podium bestieg, um seine Rede zu beginnen. Anfangs sprach er mit einer fast leisen Stimme, exakt und höflich, was seine Autorität eher unterstrich als verbarg, eine Autorität, die er mehr aus sich selbst als aus seinem Amt zu schöpfen schien. Er hielt seine dunklen lebhaften Augen fest auf uns gerichtet und ließ unsere Gesichter nur los, um von Zeit zu Zeit einen Blick auf seinen Zettel zu werfen; wenn er den Kopf senkte, verschwanden seine Augen fast unter dichten, struppigen Brauen. Die Notizen, die er vor sich hatte, dienten ihm nur zur groben Orientierung seiner Rede, er zog sie kaum zu Rate und schien all die Zahlen, die er herunterrasselte, wann immer er ihrer bedurfte, in seinem Gedächtnis zu finden, als stünden sie dort ständig zum Abruf bereit. Seine Ausführungen waren von schonungsloser und, wie ich fand, erfrischender Direktheit: Wenn nicht alles augenblicklich in den Dienst einer totalen Rüstungsproduktion gestellt würde, sei der Krieg verloren. Das waren keine Kassandrarufe: Speer verglich unsere gegenwärtige Produktion mit den Schätzungen, über die wir von der sowjetischen und vor allem von der amerikanischen Produktion verfügten; wenn wir in diesem Tempo weitermachten, so wies er nach, würden wir kein Jahr mehr durchhalten. Dabei seien wir von einer maximalen Auslastung unserer Produktionsmittel noch weit entfernt; vom Arbeitskräftemangel abgesehen, sei eines der Haupthindernisse auf regionaler Ebene der störende Einfluss der Einzelinteressen: vor allem deshalb zähle er auf die Unterstützung des SD; das sei einer der wichtigsten Punkte der Abkommen, die er mit der SS schließen werde. Gerade habe er eine wichtige Vereinbarung mit dem französischenWirtschaftsminister Bichelonne unterzeichnet, die vorsehe, dass der größte Teil unserer Konsumgüterproduktion nach Frankreich verlegt werde. Das werde dem Nachkriegsfrankreich sicherlich erhebliche wirtschaftliche Vorteile bringen, aber wir hätten keine Wahl: Wenn wir siegen wollten, müssten wir Opfer bringen. Diese Maßnahme erlaube uns, anderthalb Millionen zusätzliche Arbeitskräfte in die Rüstung zu stecken. Aber man müsse damit rechnen, dass sich zahlreiche Gauleiter den notwendigen Unternehmensstilllegungen widersetzen würden; das sei nun ein Gebiet, auf dem der SD tätig werden könne. Nach der Rede erhob sich Ohlendorf, dankte dem Minister und verlas rasch den Wortlaut des Abkommens: Der SD sei ermächtigt, die Umstände der Anwerbung und die Behandlung der Fremdarbeiter zu überprüfen; außerdem werde jede Weigerung der Gaue, die Anweisungen des Ministers zu befolgen, Gegenstand einer Untersuchung des SD werden. Feierlich wurde das Abkommen auf einem extra zu diesem Zweck aufgestellten Tisch von Hanke, Ohlendorf und Speer paraphiert; dann erhoben sich alle zum deutschen Gruß, Speer drückte ihnen die Hand und verschwand. Ich blickte auf die Uhr: Mir blieb keine Dreiviertelstunde mehr, aber ich hatte mein Reisegepäck schon dabei. In dem allgemeinen Stimmengewirr drängte ich mich zu Ohlendorf durch, der mit Hanke sprach: »Brigadeführer, entschuldigen Sie mich: Ich muss noch den Zug des Reichsministers erreichen. Zeit, dass ich mich auf den Weg mache.« Etwas erstaunt hob Ohlendorf die Augenbrauen: »Rufen Sie mich an, wenn Sie zurück sind«, sagte er.
Der Sonderzug fuhr nicht von einem der großen Fernbahnhöfe ab, sondern von der S-Bahn-Station Friedrichstraße. Auf dem von Polizei und Waffen-SS abgeriegelten Bahnsteig wimmelte es von hohen Beamten und Gauleitern, die sich lauthals begrüßten. Während ein Leutnant der Schutzpolizei seine Liste und meine Marschpapiere prüfte,betrachtete ich die Menge: Von Dr. Mandelbrod, den ich dort treffen sollte, war nichts zu sehen. Ich bat den Leutnant, mir Mandelbrods Abteil zu zeigen; er blickte wieder auf seine Liste: »Herr Dr. Mandelbrod, Mandelbrod … ach, hier, das ist der Salonwagen am Zugende.« Dieser Waggon war eine Spezialanfertigung: Anstelle einer normalen Tür besaß er, wie ein Güterwagen, über ein Drittel seiner Länge eine Doppeltür, und vor allen Fenstern waren Stahlrouleaus heruntergelassen. Eine von Mandelbrods Amazonen stand vor der Tür, in der Uniform und mit den Rangabzeichen eines SSObersturmführers; statt des vorschriftsmäßigen Rocks hatte sie
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