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Die Wohlgesinnten

Die Wohlgesinnten

Titel: Die Wohlgesinnten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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zweimal. »Wie Sie wünschen, Sturmbannführer«, antwortete sie. »Wenn Sie etwas benötigen, gleich, was es ist, brauchen Sie nur zu klingeln. Ich bin nebenan. Gute Nacht.« – »Gute Nacht«, sagte ich und zwang mich zu einem Lächeln. Ich schloss die Tür. Nach beendeter Toilette machte ich das Licht aus und legte mich hin. Der Zug fuhr in die unsichtbare Nacht hinaus und schwankte leise im Rhythmus der Schienenstürze. Ich brauchte lange, um einzuschlafen.
     
    Über die anderthalbstündige Rede, die der Reichsführer am 6. Oktober abends vor den versammelten Reichs- und Gauleitern hielt, gibt es kaum etwas zu sagen. Diese Rede ist weniger bekannt als jene andere, doppelt so lange, die er zwei Tage vorher vor seinen Obergruppenführern und HSSPF verlas; doch abgesehen von einigen durch die Zusammensetzung des jeweiligen Publikums bedingten Unterschieden und der weniger inoffiziellen, weniger höhnischen, weniger gewöhnlichen Ausdrucksweise dieser zweiten Rede, sagte der Reichsführer im Wesentlichen das Gleiche. Durch die Zufälle, die das Schicksal der Archive bestimmen, und aufgrund der Siegerjustiz sind diese Reden, weit über den geschlossenen Kreis hinaus, für den sie einmal bestimmt waren, berühmt geworden; kein Werk über die SS, den Reichsführer oder die Judenvernichtung, in dem sie nicht zitiert würden; wenn euch der Inhalt interessiert, könnt ihr euch den Text leicht beschaffen, und zwar in mehreren Sprachen; die Rede vom 4. Oktober liegt in ganzer Länge im Protokoll des Nürnberger Prozesses gegen die Hauptkriegsverbrecher unter dem Aktenzeichen 1919-PS vor (natürlich habe ich nach dem Krieg dieser Fassung die Einzelheiten entnommen, obwohl mir die Grundzüge noch aus Posen in Erinnerung waren); sie ist im Übrigen auch aufgezeichnet worden, auf Schallplatte oder auf Magnetband; die Historiker sind sich in diesem Punkt nicht ganz einig, und ich kann ihnen auch nicht weiterhelfen, da ich bei dieser Rede nicht anwesend war, aber wie auch immer, die Tonaufzeichnung ist erhalten geblieben, und wenn ihr Lust habt, könnt ihr sie euch anhören und der monotonen, pedantischen Stimme des Reichsführers lauschen, deren schulmeisterlich-trockener Ton sich etwas belebt, wenn er ironisch wird oder kleine Zornesausbrüche erkennen lässt, was mit dem Abstand besonders auffällt bei Punkten, von denen er spürte, dass er kaum etwas ändern konnte, wie etwa der allgemeinen Korruption, von der erauch am 6. vor den Würdenträgern des Reiches sprach, doch lange nicht so ausführlich – das hatte Brandt mir damals schon berichtet – wie am 4. in seiner Rede vor den Gruppenführern. Wenn diese Reden in die Geschichte eingegangen sind, dann sicherlich nicht deshalb, sondern vor allem, weil der Reichsführer dort mit einer Offenheit – die er meines Wissens weder vorher noch nachher jemals an den Tag gelegt hat –, mit einer Offenheit also und einer Ausdrucksweise, die man sogar als brutal bezeichnen könnte, das Programm der Judenvernichtung erläutert hat. Selbst ich wollte meinen Ohren zunächst nicht trauen, als ich sie am 6. Oktober hörte; der prunkvolle Goldene Saal des Posener Schlosses war brechend voll, ich saß ganz hinten, hinter etwa fünfzig hohen Tieren aus der Partei und den Gauen, ganz zu schweigen von einigen Industriellen, zwei Amtsleitern und drei (oder vielleicht zwei) Reichsministern; und ich fand das in Hinblick auf die Geheimhaltungsregeln, auf die man uns eingeschworen hatte, ausgesprochen schockierend, fast unanständig, was mir anfangs großes Unbehagen bereitete; offensichtlich ging das nicht nur mir so, denn ich hörte Gauleiter seufzen und sah sie sich mit ihren Taschentüchern über Nacken und Stirnen fahren; nicht, dass sie dort etwas Neues erfuhren, niemand, der im gedämpften Licht dieses großen Saales saß, konnte nicht auf dem Laufenden sein, selbst wenn einige von ihnen bislang vermutlich den Versuch gescheut hatten, die Angelegenheit zu Ende zu denken, ihres Ausmaßes gewahr zu werden, sich beispielsweise die Kinder und Frauen vorzustellen, und das war vermutlich der Grund, warum der Reichsführer auf diesen Punkt so viel Nachdruck legte, deutlich mehr übrigens vor den Reichs- und Gauleitern als vor seinen Gruppenführern, die sich darüber keinerlei Täuschungen hingeben konnten, und vermutlich auch der Grund, warum er unterstrich, dass wir ja durchaus auch Frauen und Kinder umbrachten: um keine Unklarheit aufkommen zulassen, und genau das war das Unbehagliche daran,

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