Die Wolfsjägerin: Roman (German Edition)
waren hoch oben unter dem Dach, und das Fenster ging auf die Middle Temple Gardens hinaus, so dass alles, was sie sehen konnte, nackte schwarze Äste vor dem weißen Winterhimmel waren. Der Stuhl knarrte, während sie vor und zurück schaukelte.
Sie trug Billis alte Kleider: einen ausgeblichenen braunen Pullover und blaue Jeans, die entlang der unteren Säume mit Paillettenblumen bestickt waren. Billi hatte keine Ahnung gehabt, dass ihr Vater ihre alten Sachen aufgehoben hatte. Wassilissa sah in diesem großen, alten Stuhl winzig aus. Ihre mageren Schultern waren vornübergesunken, ihr Kopf gesenkt.
Sie könnte ich sein , dachte Billi. Das Mädchen war so klein und so einsam. Eine Sekunde lang war es Billi unangenehm, Wassilissa so verletzlich zu sehen. Aber dann schüttelte sie den Kopf und rief sich ins Gedächtnis, dass Wassilissa hier sicherer als irgendwo sonst war. Wenn die Templer nicht gekommen wären, wäre sie mittlerweile schon Hundefutter gewesen. Doch Billi konnte ihr Unbehagen nicht abschütteln. Wenn sie das Kind ansah, musste sie an Kay denken, daran, wie viel Angst er gehabt hatte, als er hier eingetroffen war. Wassilissa hatte das nicht verdient.
Es war ungerecht. Aber seit wann war das Leben gerecht? Das war es nie gewesen.
»Wassilissa?«
»Wann darf ich gehen?«, fragte Wassilissa. Morsche Zweige kratzten an der Fensterscheibe wie die Finger einer Hexe, und ein leichter Wind fuhr stöhnend durch den leeren Spitzboden über ihnen.
»Wohin?«
»Weg von hier. Ihr seid nicht meine Familie.«
»Mein Dad wird die Sache schon in Ordnung bringen.« Billi begann die Bettlaken glattzuziehen, beschäftigte sich mit irgendetwas, um sich abzulenken. Sie hob einen Plastikmüllbeutel hoch und schüttete den Inhalt aufs Bett. Ein Gewirr von Stofftieren fiel heraus: Elefanten, Tiger und ein paar geflickte Bären. Billi wühlte am Grund des Beutels herum und fand noch etwas, rundlich und fest. Sie zog die russische Puppe hervor. Sie hatte sie gestern Abend in Wassilissas Zimmer das erste Mal gesehen.
»Das ist meine«, sagte das Mädchen und streckte die Hand danach aus. »Mama hat gesagt, sie würde mich vor ihnen beschützen. Aber das konnte sie nicht.«
Als Billi ihr die Puppe reichte, umklammerte Wassilissa ihr Handgelenk.
»Geh nicht weg«, flüsterte das kleine Mädchen. »Ich habe Angst. Bitte.« Ihre Fingernägel gruben sich in Billis Haut, und sie hielt sie mit der Kraft der Verzweiflung fest. Billi stand starr da, gefangen im Griff des Mädchens; ihr Herz raste. Dann löste sie Wassilissas Finger und eilte zur Tür. Sie konnte nicht länger hierbleiben: Sie musste zur Schule.
»Ich muss jetzt los, aber ich schaue nachher noch einmal vorbei.« Billi tastete nach der Türklinke. »Du bist hier in Sicherheit.«
Das Mädchen sah sich nicht um und sprach so leise, dass Billi sich fragte, ob Wassilissa nicht eher mit der Puppe redete. »Wirklich?«
6
»Was glaubst du, Percy?«, fragte Billi, als sie sich neben den Grabstein ihres Patenonkels setzte. Es war ein paar Wochen her, dass sie ihn zuletzt besucht hatte, und das Grab benötigte Pflege.
Percival. Ein armer Soldat.
Das war sein ganzer Grabspruch. Templer brauchten nichts Langes oder Melodramatisches. »Die anderen lassen dich grüßen.« Sie schlug den Kragen ihres Soldatenmantels hoch und schlang sich den Schal neu um die untere Gesichtshälfte.
Der Schnee war die ganze Woche lang stetig gefallen und hatte London langsam mit einem weißen Schleier bedeckt. Leider war noch immer Schulzeit, und Billi freute sich nicht auf ihre mitternächtliche Patrouille.
»Oh, wie es in der Schule war? Wie immer, wie immer. Du kennst mich ja, ich habe zu viel zu tun, um mit den anderen Mädchen rumzuhängen.« Das hatte sich nicht verändert. Billis Ruf war schon immer erbärmlich gewesen, hatte sich aber nach Kays Tod sogar noch verschlechtert.
Nach Ansicht der Polizei war Kays Tod ein Unfall gewesen. Er war auf eine Baustelle eingedrungen und gestürzt. Der Fall war abgeschlossen.
Nichts über die Schlacht, die sie gegen die Unholde ausgefochten hatten, die Dunklen Engel, die versucht hatten, sie und alle Erstgeborenen zu töten. Nichts darüber, wie Billi Kay ein Schwert in die Brust gestoßen und ihn geopfert hatte, damit Millionen am Leben bleiben konnten.
Sie hatte wochenlang Albträume gehabt. Sie konnte jetzt noch nicht die Augen schließen, weil sie sonst sah, wie Kays Augen sie groß und leer anstarrten.
An der Schule hieß es, dass
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