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Die Wuensche meiner Schwestern

Die Wuensche meiner Schwestern

Titel: Die Wuensche meiner Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa van Allen
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die ihrer so nah war, dass sie nach ihr greifen könnte. Doch auf einmal vernahm sie Mariahs Stimme in ihrem Inneren, die sie für ihre unnötigen Schuldgefühle tadelte: Willst du mich auf den Arm nehmen? Ich wünsche mir doch, dass du abgelenkt bist, erklärte sie.
    Sie sahen zu, wie ein weiterer Redner auf den Baumstumpf vor dem Leuchtturm trat, um etwas über Mariah zu sagen. Es war ein großer, schlanker junger Mann mit einem Gesicht wie ein Schauspieler – riesige Augen und ein riesiger Mund –, er stellte sich als Mason Boss vor. Er hatte gepflegtes, espressodunkles Haar, braune Haut und trug Lederschuhe, die so stark glänzten, dass man sich hätte Brokkolireste aus den Zähnen picken können, wenn man direkt vor ihm stand und nach unten schaute. Seine Stimme ertönte wie aus ferner Vergangenheit.
    »Kennst du ihn?« Aubrey beugte sich zu Jeanette hinüber.
    Jeanette wandte den Blick nicht von ihm ab. Er stand sicher auf dem alten Eichenstumpf und sprach leiser als die Redner vor ihm, so dass alle, die hören wollten, was er ihnen zu sagen hatte – und das wollte jeder –, ihre Kinderzum Schweigen brachten und sich nach vorn beugten.
    »Nein«, antwortete Jeanette. »Noch nicht.«
    »Kommt es nur mir so vor, oder klingt er … ja, wie eigentlich? Ein kleines bisschen britisch?«
    »Wie soll jemand denn ein kleines bisschen britisch sein?«
    »Er spricht so vornehm«, meinte Aubrey.
    »Er hat eine gute Aussprache«, gab Jeanette zu.
    Seine sanften, schüchternen Worte wurden langsam lauter. Aubrey war sich sicher, ihn noch nie zuvor gesehen zu haben. Er behauptete, neu in Tappan Square zu sein, doch er sprach über Mariah. Über ihre Moral. Ihren Mut. Er sprach davon, dass sie die Schönheit in Tappan Squares Vielfalt und Einzigartigkeit erkannt hatte – auch wenn die Gesetzgeber dazu nicht in der Lage waren. Er sagte, es sei nicht fair, dass irgendeine Person oder Gruppe von Personen das Recht haben sollte, das Eigentum anderer Personen an sich zu reißen. Hatte nicht John Locke gesagt, Menschen besäßen ein grundsätzliches Recht auf Leben, Freiheit und Ei-gen-tum ? War das nicht der Sinn der Verfassung? Die Menschen sollten sich erheben und Tarrytown daran erinnern, dass eine Regierung des Volkes eine Regierung des ganzen Volkes war – nicht nur der wenigen Privilegierten.
    Aubrey bekam Gänsehaut. Sie hatte gar nicht bemerkt, wann sie aufgehört hatte zu stricken. Aus dem Murmeln der Menge heraus rief plötzlich irgendjemand: »Hey! Die Halperns sind hier! Das ist Steve Halpern!« Im ganzen Park ertönten Buhrufe, leise und unheimlich, und über dem Summen der Buhrufe explodierten einzelne Schreie und Gejohle wie Flaschenraketen. Aubrey sah, wie Steve Halpern seiner Frau die Hand auf den Rücken legte und sie langsam zurück zum Parkplatz führte, fort von der immer aufgebrachteren Menge.
    Doch die jungen Männer am Rande des Parks erkannten die Gelegenheit und wollten ihren Abgeordneten nicht gehen lassen, ohne ihm die Meinung zu sagen. Nach Mason Boss’ aufrüttelnder Rede schien es auf einmal, als wäre Mariah nicht auf einem handgeknüpften Teppich auf Steve Halperns Fußboden gestorben, sondern mit dem Kopf in einer Schlinge, deren anderes Ende dieser festhielt. Die Polizisten, die sich bislang am Rand des Parks aufgehalten hatten, rückten näher. Eine Menschenmenge – dreißig Leute? fünfzig? – wogte auf die Halperns zu, und die Männer und Frauen skandierten: »Rettet Tappan Square! Rettet Tappan Square!« Aubreys Magen verkrampfte sich vor Sorge, aber auch vor Aufregung. Sie freute sich, zu sehen, dass ihre Nachbarn so leidenschaftlich politische Stellung bezogen.
    Und dann veränderte sich alles blitzschnell.
    Ein zweiter Feuerwerkskörper ging in die Luft, diesmal inmitten der Menge. Die Menschen kreischten, schubsten und drängelten, um fortzukommen. Aubrey schrie auf. War jemand verletzt? Direkt neben den Halperns wurde weiter skandiert: »Rettet Tappan Square! Rettet Tappan Square!« Aus Protestrufen wurden Rufe der Wut und des Zorns. Aubrey stand auf. Alle standen auf. Stühle kippten. Eltern schnappten sich ihre Kinder. Hunde bellten und zerrten an den Leinen. Die Gänse am Rande des Parks erhoben sich in den Himmel. Noch ein Feuerwerkskörper explodierte. Eine Flasche zersplitterte an einem Baum. Aubrey spürte, wie die Gefahr immer stärker anschwoll.
    Vic zog sie am Arm. »Wir sollten besser von hier verschwinden«, sagte er.
    * * *
    Zehn Minuten später war alles vorbei. Der

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