Die Wuensche meiner Schwestern
für . Lässt du dich als neue Vorsitzende aufstellen?«
»Oh. Nein.«
Er senkte den Kopf. »Warum nicht? Bist du nicht Mariahs rechtmäßige Erbin?«
Sie sah ihn nun an, ohne daran zu denken, ihr Gesicht zu verbergen. War er verrückt geworden? Der Anführer der Tappan Watch musste so vieles sein, was Aubrey nicht war. Der Anführer musste selbstsicher vor Publikum sprechen (Aubrey hatte noch nicht einmal bei Mariahs Beerdigung das Wort ergriffen). Er musste entschieden und dreist sein (Aubreys frechster Moment war in der achten Klasse gewesen, als eine Lehrerin sie etwas gefragt und sie nur erwidert hatte: »Sie sind die Lehrerin, sagen Sie es mir.«). Außerdem musste er in Tarrytown beliebt sein – denn wer außer einer bekannten und angesehenen Person könnte die Leute von Tappan Square so mobilisieren, dass sie ihr Ziel erreichten? Dass Vic glaubte, Aubrey könnte dieser Anführer werden, war ebenso schmeichelhaft wie lächerlich. Sie wünschte, sie könnte sich selbst durch seine Augen sehen.
»Ich kann mich nicht aufstellen lassen«, erwiderte sie.
»Aber du wirst dich doch zumindest zu Wort melden, oder? Um die Richtung vorzugeben? Nach allem, was passiert ist, glaube ich, dass die Leute gern etwas von dir hören würden.«
Sie blickte auf ihre im Schoß liegenden Hände, und eine dunkle Welle der Schuldgefühle überkam sie. Sie wollte helfen. Wirklich. Sie wünschte, sie wäre jemand anderes – jemand, der sich vor eine Menschenmenge stellen konnte, ohne in Schweiß auszubrechen. Doch dann erinnerte sie sich daran, wer sie war: Es war tatsächlich besser für alle, wenn sie weiter das tat, was sie schon immer getan hatte, und eine Neben- statt der Hauptrolle spielte. Ein schlechter Anführer war äußerst gefährlich. Sie wusste zwar, dass sie nicht richtig schlecht sein würde, aber sie konnte sich auch nicht vorstellen, dass sie gut wäre.
»Ich kann wirklich nicht gut vor Publikum sprechen«, erklärte sie.
»Tatsächlich? Aber du bist so … ach … wie heißt das noch gleich? Du weißt schon – wenn man sich gut ausdrücken, Argumente gut vortragen kann …?«
»Wortgewandt?«
Er schnipste mit den Fingern. »Siehst du? Du bist ein Naturtalent!«
»Nett von dir.« Sie lachte. »Aber das ist nur der Bücherwurm in mir. Wenn ich vor einer Gruppe Menschen spreche, werden meine Füße taub. Ernsthaft.«
»Gut, dass du zum Reden nur deinen Mund brauchst«, erwiderte er. Und wenn Aubrey es sich nicht einbildete, blieben seine Augen für einen kurzen Moment eben dort hängen.
Auf dem Podium im vorderen Teil des Raumes klopfte jemand mit den Fingern gegen das Mikrophon und sagte: »Test. Hallo. Hallo. Ich möchte nun alle bitten, sich auf ihre Plätze zu begeben.«
Vics Gesicht verdunkelte sich kurz vor Enttäuschung, und sein Blick verweilte noch einen Moment auf ihr, bevor er nach vorn sah. Von draußen war das lange, leise Heulen des Windes zu vernehmen.
»Leute, bitte.« Dan Hatters, der Schatzmeister von TappanWatch, der in der jetzigen Lage einem Anführer am nächsten kam, war ein kleiner, fast kahlköpfiger Mann in einem hübsch gemusterten Argyle-Pullover und billigen Jeans. Er sprach mit schriller Stimme. »Leute, hallo. Hinsetzen, bitte.«
Aubrey nahm ihr Strickzeug auf. Das Verfahren zur Regelung von Mariahs Nachfolge begann.
Die Bürgerbewegung Tappan Watch konnte weder auf eine besonders lange noch besonders erfolgreiche Geschichte in Tarrytown zurückblicken. Sie war vor einiger Zeit – niemand wusste mehr genau, wann – gegründet worden, um sich gegen die anschwellende Kriminalität zu wehren. Man stellte Straßenschilder auf, die eine Null-Toleranz-Politik verkündeten. Man sponserte einen »Gokart-Abend« für Schüler, die ihre guten Noten hielten. Man organisierte einmal im Jahr ein Straßenfest. Kurz, man bemühte sich.
In den letzten Jahren war Tappan Watch jedoch ein wenig die Puste ausgegangen, da sich die Bewohner mit der Zeit weniger um Kriminalität sorgten als darum, wie sie ihre Familien ernähren sollten. Das Straßenfest schrumpfte auf ein paar Klapptische und einen Amateurclown zusammen. Den Schülern wurde bewusst, dass ein Abend Gokartfahren nicht für ein ganzes Schuljahr Mathelernen entschädigte. Die Null-Toleranz-Schilder waren Vandalismus zum Opfer gefallen, so dass die wachsamen Augen darauf nun aussahen wie ein Paar herabhängender Brüste. Aubrey konnte sich nun, da Mariah tot war, nicht recht vorstellen, wie die Gruppe in der Lage sein sollte,
Weitere Kostenlose Bücher