Die Würde der Toten (German Edition)
auf brechende Knochen ebenso ernst zu nehmen war, wie das darauf folgende Angebot der schützenden Hand, die sich über ihn und die Seinen breiten könne. Unter gewissen Umständen. Der Mann hatte nicht auf eine Antwort gewartet.
Mit fahrigen Bewegungen kramte Eberhard Moosbacher den Schlüssel hervor, schloss die Eingangstür ab und zog sich in sein Büro zurück. Seine Kräfte ließen nach, körperlich und mental. Er konnte dem Druck nicht mehr lange standhalten. Wenn er nicht bald eine Lösung fand, würden sich andere um seine Probleme kümmern. Er wagte nicht sich auszumalen wie.
Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte er sich der Angst vor der Zukunft ausgeliefert.
* * *
Henriette Körner nahm Adrian an der Schulter, drehte ihn ein Stück zur Seite und schob ihn ins Nebenzimmer. Dort öffnete sie das Fenster, stellte ohne zu fragen eine Tasse vor ihn auf den Tisch und goss aus der Thermoskanne Kaffee ein. Er sah aus, als ob er eine Portion Frischluft und Koffein gebrauchen könnte. Sie hätte jetzt einen Whiskey bevorzugt. Einen doppelten. Lebende Menschen waren oft schrecklich kompliziert.
In Gedanken legte sie sich Sätze zurecht und verwarf sie wieder. Ihr letztes Gespräch dieser Art lag mindestens ein Jahr zurück. Nach ihrem außergewöhnlichen Aufeinandertreffen im Keller konnte sie nicht mit den üblichen einleitenden Worten beginnen.
»Na gut«, entfuhr es ihr schließlich. Etwas zu salopp, aber beherzt. »Am besten arbeiten wir nach und nach die wesentlichen Punkte ab. Ist das in Ordnung für Sie, Herr …?«
»Wolf, Adrian Wolf. Ja, ist es.«
Da ihr der Totenschein noch nicht vorlag, fragte Henriette die persönlichen Daten der Verstorbenen ab. Adrian Wolf antwortete einsilbig. Der Versuch, ihn durch geschäftsmäßiges Auftreten zu entkrampfen, scheiterte. Sie merkte, wie ihr seine Aufmerksamkeit entglitt und sich auf den Verkehr draußen auf der Straße richtete. Ein blauer Golf fuhr mit schleifendem Keilriemen vorbei. Dann ein grauer Wagen, vermutlich ein japanisches Modell. Immer an derselben Stelle blitzte draußen ein greller Lichtreflex auf, und er kniff die Augen zusammen. Henriette beobachtete ihn eine Weile, es schien ihm nicht aufzufallen, dass sie minutenlang schwiegen. Schließlich schloss sie das Fenster und setzte erneut an.
»Wissen Sie, ob Frau von Bragelsdorf hinterlassen hat, wie sie beigesetzt werden möchte? Manche Menschen treffen Vorbereitungen, planen …«
»Elisabeth nicht.«
»Hat sie vielleicht mit jemand anders darüber gesprochen?«, hakte sie vorsichtig nach.
»Wüsste nicht, mit wem.«
Wieder verfiel er in Schweigen, und sie studierte sein Gesicht. Schmal und kantig, erste Falten auf der Stirn und um den Mund, graue Schatten auf Kinn und Wangen, die von kräftigem Bartwuchs zeugten. Sie schätzte ihn auf Anfang, höchstens Mitte vierzig. Also etwa zehn Jahre älter als sie selbst.
»Ist da niemand sonst, der sich kümmert? Ein Ehemann, Geschwister, Kinder, Freunde, die Sie bei den Vorbereitungen unterstützen können?«
Adrian schnaubte verächtlich, rührte angestrengt in der halbleeren Tasse, trank den letzten Schluck Kaffee. »Gibt wohl nur uns beide, Henry.«
Mit konzentrierter Miene betrachtete er den Bus, der gerade den Blick aus dem Fenster versperrte. Henriette versuchte es weiter.
»Vielleicht ist es einfacher, wenn wir die Sache von einer anderen Seite her angehen. Erzählen Sie mir von Elisabeth von Bragelsdorf.«
»Da gibt es nicht viel zu erzählen.«
»Was verbindet Sie mit ihr? Wer war sie für Sie?«
»Sie war – einfach Elisabeth.«
»Eine gute Freundin?«
Er zögerte einen Moment, ehe er den Kopf schüttelte, aber er sagte nichts. Henriette seufzte. Sie war es gewohnt, dass ihre Kunden nicht mit ihr sprachen, aber die hatten einen guten Grund zu schweigen. Dieser hier nicht. Fast bereute sie es schon wieder, sich aus ihrem Keller gewagt und dieses Gespräch angenommen zu haben.
Ihre Toten heuchelten nicht, sie waren unfähig zur Lüge, eindeutig. Aber diesen Mann hier konnte sie nicht verstehen. Entweder war das ein völlig kalter Hund oder einer, der sich versteckte. Sie beschloss, sich auf sein Schweigen einzulassen, legte die Hände auf die Tischplatte, beobachtete den stummen Kampf in seinen Zügen und wartete.
Schließlich fuhr Adrian Wolf sich mit beiden Händen übers Gesicht, rieb die Augen hinter der Brille. Rot und gereizt, aber troc ken. Er hatte keine Träne vergossen.
»Elisabeth war meine Mutter.«
* * *
An die
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