Die Würde der Toten (German Edition)
Fahrt vom Beerdigungsinstitut nach Niederrad konnte Adrian sich kaum erinnern. Mehrmals war er erschreckt zusammengezuckt und musste sich neu orientieren.
Jetzt war er erleichtert, endlich angekommen zu sein. Um ständlich kramte er den Wohnungsschlüssel aus der hinteren Hosentasche, ohne die Sporttasche abzustellen. Er schob die Haustür mit dem Fuß auf. Den Aufzug ignorierte er. Seine Funktionsfähigkeit lag bei konstant Null, nur die Graffiti-Schmierereien wechselten regelmäßig. Das Treppenhaus roch nach nassem Hund und kaltem Rauch. Im zweiten Stock streifte sein Blick ein frisch in den Putz gekratztes schiefes Herz mit krakeligen Initialen, in denen man sowohl A+K, als auch R+H oder etwas ganz anderes erkennen konnte. Der Hausmeister würde wieder einen Anfall kriegen, böse Briefe schreiben und kollektiv alle zwischen fünf und fünfundzwanzig verdächtigen und anbrüllen.
Im vierten Stock des alten Sozialbaublocks war die Luft stickig. Darüber lag nur noch der schlecht isolierte Dachboden. Der Schlüssel klemmte im Schloss, und er musste am Knauf ziehen und ihn gleichzeitig drehen, um die Wohnungstür zu öffnen. Krampfhaft hielt er dabei die Tasche fest, um sie dann in den hintersten Winkel des Garderobenschranks zu stopfen.
Aus der Jacke zog er die Visitenkarte von Eberhard Moosbacher, auf deren Rückseite handschriftlich eine Durchwahlnummer gekritzelt war und ein Name. Unschlüssig drehte er sie in der Hand hin und her und warf sie schließlich mit dem Schlüssel auf die Ablage. Henriette Körner . Morgen sollte er sich wieder bei ihr melden. Aber heute wollte er nicht mehr weiter nachdenken.
Er bog ins Badezimmer ab, drehte den Wasserhahn auf und ließ heißes Wasser in die Wanne laufen. Aus dem Wohnzimmer holte er eine Flasche Rotwein und einen Korkenzieher und setzte sich auf den Wannenrand. Eigentlich nicht sein Ding. Er bevorzugte Bier. Elisabeth hatte Rotwein gemocht. Irgendwann hatte er den hier sicher für sie gekauft und dann vergessen. Adrian fixierte die hellblauen Fliesen an der Wand. Schwimmbadkachelblau. Über dem Waschbecken öffnete er die Flasche, dann goss er den Inhalt langsam in den Ausguss, verfolgte den dunklen Strudel, der sich gluckernd drehte und dabei schmutzige Streifen auf der weißen Keramik zurückließ. Er schlurfte hinaus, holte ein Bier aus dem Kühlschrank und trank ohne abzusetzen. Noch in der Küche streifte er die Schuhe ab, zog sich aus und rollte die Wäsche zu ei nem handlichen Bündel zusammen, das er anschließend im Bad in den Wäschekorb stopfte.
Elisabeth. Mutter. Henrys Fragen kreisten in seinem Kopf, als er langsam ins Wasser glitt. Es war lange her, dass er in der Wan ne gelegen hatte. Er duschte lieber. Schnell und zweckmäßig. Aber jetzt hatte er das Bedürfnis, sich einzuweichen, bis sich die Haut in kleinen Wellen pellte, der Desinfektionsmittelduft aus seiner Nase verschwand und der Mottenkugelgestank des Todes. Woher dieser Gedanke an Mottenkugeln kam, konnte er sich nicht erklären. Aber beide Gerüche verfolgten ihn, seit er im Bestattungsunternehmen gewesen war, verwirbelten nun in seinem Kopf, wurden allmählich ersetzt durch den Duft der Erinnerung.
Adrian füllte seine Lungen mit Luft, tauchte unter und öffnete die Augen. Kein Schaumbad, das in den Augen brannte, kein auf dringliches Aroma, so stark und überwältigend, dass es ihn ekel te. Seine Folter, wenn Elisabeth badete. Er dachte daran, wie sie dabei ausgesehen hatte, als er ein Kind war. Schön, makellos, unnahbar. Wie sie seine Blicke auf sich gezogen hatte, um ihn anschließend dafür zu tadeln.
Der Wasserdruck erzeugte ein tiefes Rauschen, das durch seine Ohren bis in die hintersten Gehirnzellen vordrang. Dort überlagerte es für einen Moment alle Gedanken und mischte sich mit den verzerrten Bildern, die das hin und her schwappende Wasser auf die Netzhaut projizierte. Das Dröhnen verstärkte sich. Er spürte das Pulsieren seines Blutes in den Schläfen, während ihm allmählich die Luft ausging. Prustend kam er zurück an die Oberfläche. Draußen klingelte das Telefon. Er ignorierte es. Beileidsbekundungen waren das Letzte, was er gebrauchen konnte. Es gab keinen Verlust zu beklagen. Wenn er überhaupt etwas empfand, dann Erleichterung.
Henriette Körner hatte ihn weggeschickt, damit er sich Zeit nahm zum Nachdenken und keine überstürzten Entscheidungen traf. Man konnte Leichen kühlen und lagern, bei entsprechender Behandlung. Auf Antrag auch zwei Wochen lang. Es
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