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Die Würde der Toten (German Edition)

Die Würde der Toten (German Edition)

Titel: Die Würde der Toten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Pons
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Freund.«
    Unbehaglich begann Henry mit ihrer Arbeit. Die beiden Klötze verharrten still hinter ihr, ohne eine Gemütsregung zu zeigen, während sie den Toten entkleidete. Die Leichenstarre befand sich noch im ersten Stadium, im Bereich der Nacken- und Schultermuskulatur konnte sie leichte Bewegungseinschränkungen feststellen, und insgesamt nur schwach ausgeprägte Leichenflecke finden. Wieso diese Eile bei der Versorgung? Vor ihren Augen tanzten kleine Fragezeichen, mischten sich mit Blaulichtern, und mit Sirenengeheul in den Ohren. Sie bemühte sich, das plötzliche Zittern ihrer Hände zu verbergen und beim Waschen auf jede Kleinigkeit zu achten. Gerüche, auffällige Färbungen, Ungereimtheiten. Im Geist rekapitulierte sie alle Anzeichen eines Verbrechens aus ihrem Ausbildungsprogramm. Aber da war nichts. Außer ihrem Instinkt, der sie warnte, und den aufgestellten Haaren auf ihren Unterarmen. Und den Kerlen mit dem Mangel an Respekt und Feingefühl in ihrem Genick. Sonst nichts.
    »Geben Sie mir fünf Minuten allein mit Ihrem Freund. Sie können direkt auf der anderen Seite der Tür warten. Ich habe nicht vor, den Mann verschwinden zu lassen. Sie sind zwei starke Kerle, aber glauben Sie mir, was ich als nächstes mit dem Toten machen muss, ist nichts für schwache Nerven. Ja klar, Sie sind natürlich keine Weicheier.« Ihr brach der Schweiß aus; ihr Text war durchaus noch verbesserungswürdig. »Aber man hat schon Pferde kotzen sehen, wenn Sie verstehen? Nichts für ungut, aber wenn das einem von Ihnen passiert … den Geruch kriege ich hier so schnell nicht wieder raus. Es gibt hier strenge Hygienevorschriften … und nächste Woche kommt die Gewerbeaufsicht. Wissen Sie, ich muss jetzt«, verzweifelt hob sie einen Schlauch und einen Trichter in die Höhe und deutete mit einem Kopfnicken in Richtung Unterleib, »das ist echt nicht schön.«
    Die beiden Männer wechselten einen kurzen Blick.
    Lolek und Bolek, schoss es ihr durch den Sinn. Strichmännchen hüpften durch ihre Erinnerung. Keine Russen. Keine Ukrainer. Tschechen? Eine Kindersendung jedenfalls.
    Sie räumten den Platz vor der Tür und postierten sich auf der Außenseite. Mit fliegenden Fingern kramte Henry in der unteren Schrankschublade. Sie zwang sich, ruhig zu atmen. Verwackelte Bilder nutzten nichts. Mit ihrer alten Sofortbildkamera knipste sie die bläulichen Leichenflecken, einige winzige Punkte in den Armbeugen, die sie für Einstichstellen hielt, dann die Augäpfel, aber sie entdeckte keine Einblutungen. Die Nase erschien ihr am unteren Rand leicht gerötet, wie von einer Entzündung. Sie schaute genauer hin. Entweder hatte der Typ sich alle Nasenhaare ausgezupft oder sich ein paar Koks-Linien zu viel reingezogen. Am Schnurrbart vorbei versuchte sie, in die Nase zu fotografieren. Die Temperatur des Toten konnte sie auch noch messen. Sie notierte eilig ihre Beobachtungen und den Messwert. Einen Augenblick zögerte sie, fühlte sich lächerlich, doch dann kramte sie aus ihrer Tasche die TAZ, legte sie dem Mann auf den Bauch und lichtete ihn noch einmal ab. Leiche mit Uhrzeit und Tageszeitung. Wie bei einem Entführungsopfer. Nur dass ihr Opfer bereits tot war. Sie steckte die Kamera zurück in den Schrank, stopfte die Zeitung dazu, legte vorsichtig die noch feuchten Bilder nebeneinander auf das obere Brett und schloss leise die Türen. Dann packte sie Schlauch, Trichter und einen Eimer und klapperte laut an der Spüle, drehte den Wasserhahn bis zum Anschlag auf und schmierte sich etwas rote Desinfektionslösung auf die Schürze. Mit tropfnassen Handschuhen öffnete sie die Tür.
    »Fertig!«, verkündete sie und schaffte ein fast schon überhebliches Grinsen.

* * *

    Jetzt also. Wie trat man einem Mann gegenüber, der seit über vierzig Jahren nichts weiter war als ein Phantom? Ein totgeschwiegenes Phänomen, das vor langer Zeit nur eine kurze Rolle als Erzeuger gespielt hatte, dann verschwunden war und nichts als Schmerz und Wut hinterlassen hatte. In Adrians Kopf gab es keine greifbare Erinnerung. Kein Weißt-du-Noch, mit dem man hätte beginnen können. Nicht mal als Einstieg: »Du siehst aus wie auf dem Foto.« Er besaß kein einziges.
    Wenn Elisabeth in unbeherrschter Wut auf ihn eingeschlagen, gebrüllt, ihn beschimpft hatte, war er sicher gewesen, dass dieser Mann daran schuld war und er selbst, weil er ein Teil von ihm war und etwas in seinem Gesicht ihm ähnelte. Aber was?
    Im Vorraum der Gaststätte warf er einen Blick in den

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