Die Würde der Toten (German Edition)
Ahnung, was genau er dort machte, aber ihn anzurufen, kostete weit weniger Überwindung, als ganz offiziell die Polizei einzuschalten. Das hatte sie einmal erlebt, ein riesiger Aufstand und Papierkram ohne Ende. Außerdem war das, was ihr an dem Toten aufgefallen war, nicht wirklich viel – aber durch die Anwesenheit von Lolek und Bolek eben mehr, als sie ignorieren konnte. Doch Eberhard Moosbacher t eilte ihre Skepsis nicht. Der Mann, der den Auftrag vermittelt habe , sei absolut zuverlässig; Totenschein und Leichenpass würden umgehend nachgeliefert, versicherte er grantig. Aber bisher hatte sie nichts dergleichen vorliegen.
»Du musst dir das ansehen, Adrian.« Henry kurbelte an der Telefonschnur. »Ich bin sicher, da ist was faul.«
»Hör mal, ich sitze in der Rechercheabteilung und nicht bei der Kripo. Da bin ich der falsche Mann.«
»Bitte! Der Tote ist nur noch ein paar Stunden hier, dann wird er eingepackt und morgen früh von denen überführt.«
»Dann solltest du erst recht die Kripo einschalten.«
»Und wenn ich falsch liege? Das gibt riesigen Stress mit Moosi. Der sagt, ich sähe Gespenster! Du sollst doch nur mal einen Blick auf ihn werfen. Er ist schon fertig und wartet oben auf die Abschiednahme. Aber ich habe auch …«
»Fertig angezogen im Sarg? Was soll ich da noch sehen?«
Henry schnaufte genervt.
»Mensch, ich weiß auch nicht! Aber ich habe ein ganz blödes Gefühl!«
»Henry, wenn das nur ein Trick ist, um mich in diesen Raum zu kriegen …«
»So eine linke Nummer mache ich nicht! Das wäre echt gemein. Ich nehme meinen Job ernst, das solltest du wissen!« Während sie ihn aussprach, wurde ihr bewusst, wie unsinnig dieser Satz war. »Nein, eigentlich kannst du das nicht wissen, aber ich hatte ge hofft … Na ja, ich weiß, dass ich da viel von dir verlange, und eigentlich kennen wir uns ja nicht so gut, aber …« Sie brach ab. Für sie fühlte es sich nicht so an, als ob sie einander erst wenige Tage kannten.
Adrian grübelte einen Augenblick, dann zog er mit den Zähnen die Kappe von einem Stift, spuckte sie in das Durcheinander von Schriftstücken und benutzten Kaffeetassen und schob ungeduldig einen Ordner beiseite. Er hatte nicht vor, sich diesen Toten anzusehen. Aber Nachforschungen waren sein Spezialgebiet. Warum also nicht? Er konnte sich ohnehin nicht auf die Arbeit konzen trieren. Und alles war besser, als weiter an diesen weinerlichen alten Heuchler zu denken.
»Okay, Gegenvorschlag: Du gibst mir Name, Adresse, Geburtstag und -ort, Sterbedatum, Namen der Angehörigen – alles was du hast. Ich jage es hier durch den Computer, vielleicht finde ich was.«
Er notierte ihre Angaben auf einem freien Fleck seiner Schreibtischunterlage aus Papier.
»Melde mich dann«, nuschelte er wieder mit dem Stift im Mund, während er die Kappe suchte und mit der anderen Hand schon die Tastatur bearbeitete.
* * *
Als ihr Handy klingelte, brauchte Henry eine ganze Weile, bis sie es in ihrem Rucksack gefunden hatte. Ein hartnäckiger Anrufer mit unterdrückter Telefonnummer. Wahrscheinlich ihre Mutter, obwohl Freitagnachmittag nicht die für sie typische Zeit war. Sie ließ sich auf den Schreibtischstuhl plumpsen, schubste sich mit dem linken Fuß ab und drehte sich im Kreis.
»Yepp?«, fragte sie betont flapsig, denn ihre Mutter hasste es, wenn sie nicht ihren Namen nannte.
»Henry? Henry bist du das? Du musst mir helfen!«
»Jürgen!« Abrupt bremste sie die schwungvolle Karussellfahrt.
»Sie sind hinter mir her.«
»Wer?« Sie rollte zurück zum Tisch.
»Wegen der Schulden.« Er zog geräuschvoll die Nase hoch, wie immer, wenn er nervös war. Sie konnte ihn direkt vor sich sehen, wie er sich nun die Nase am Handrücken abwischte.
»Entspann dich. Dein Vater hat einen Deal ausgehandelt. Anne liese hat es mir heute erzählt. Ich werde jetzt auch Aufträge für andere Bestatter bearbeiten. Wird eine Weile dauern, aber wir stottern die Schulden ab. Du kannst nach Hause kommen. Zumindest deine Mutter würde sich freuen, dich zu sehen.« Den kleinen Hieb konnte sie sich nicht verkneifen. »Es war noch kein Gerichtsvollzieher da, und von einer Anzeige weiß ich auch nichts. Scheint, als ob sogar die Baufirma sich vertrösten lässt.«
»Egal was mein Vater mit denen abgemacht hat. Da sind … die … die haben mit mir noch ein Hühnchen zu rupfen.«
»Die Leute von der Bank?«
»Ach Henry, in welcher Welt lebst du eigentlich?«
»Also geht es mal wieder um andere Schulden. Was
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