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Die Würde der Toten (German Edition)

Die Würde der Toten (German Edition)

Titel: Die Würde der Toten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Pons
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Spiegel. Eine hohe Stirn, graue Augen, die Nase schmal, gerade und ganz vorn an der Spitze eckig. Starker Bartwuchs, der schon am Nachmittag wieder dunkle Schatten auf seine Wangen malte. Kleine Ohren mit ausgeprägten Windungen, geschwungene Lippen, die Katja sinnlich nannte, seine vorherige Freundin Sophie hingegen weich und unmännlich, als sie ihn verließ.
    Er hängte die Jacke an den Garderobenhaken, fuhr mit beiden Händen über die kratzigen Haare im Gesicht, die er nicht abrasiert hatte. Wozu auch? Es gab keine Notwendigkeit dem Mann etwas vorzuspielen, ihn beeindrucken zu wollen, weder mit gutem Aussehen noch mit irgendeiner Leistung. Er war kein Kind, das Lob suchte oder Liebe vom verlorenen und wiedergefundenen Vater.
    Sein Puls klopfte unnatürlich laut, ein leichter Schweißfilm überzog Handflächen und Nacken. Verärgert drehte er sich um – und blickte in sein eigenes Gesicht.
    Der fremde Mann fuhr sich mit beiden Händen über die rauen Wangen, sichtlich fassungslos. Die Frage war nicht, worin sie ein ander ähnelten. Höchstens, was sie unterschied. Zwanzig Jahre etwa. Nichts sonst.
    Der Ältere streckte unsicher die Hand aus, aber Adrian ergriff sie nicht. Mit einem kaum merklichen Kopfnicken zog Viktor Bertram die Hand zurück, wischte sie an der Hose ab. Er trat einen Schritt beiseite, bedeutete Adrian vorauszugehen und folgte ihm dann wortlos in die Gaststube.
    Fast alle Tische waren besetzt. Gutbürgerliche Küche zu moderaten Preisen auf der Mittagskarte, da störte es wenig, dass das Ambiente fünfzig Jahre hinter der Zeit zurückgeblieben war. Die meisten Gäste arbeiteten in der Nähe oder machten als Fernfahrer hier regelmäßig Station. Dunkelbraune Tische und Stühle, dunkelbraune Wandtäfelung, karierte Tischtücher und der Geruch von hausgemachter Bratensoße. Vor dem Fenster Geranientöpfe, die die Wirtin bald abhängen und vor dem ersten Nachtfrost über den Winter im Keller einlagern würde. Am Stammtisch spielten Rentner Skat.
    Die lebhaften Gespräche um sie herum machten ihr eigenes Schweigen umso deutlicher. Sie vergruben sich in der Speisekarte, bestellten Bier, ohne einander anzusehen. Keiner verspürte Lust, etwas zu essen.
    Adrian hasste es, den Mann anzusehen. All der Ärger, den Elisabeth auf ihm abgeladen hatte, hatte Viktor Bertram gegolten, und Adrian hatte einstecken müssen, Jahr für Jahr. Das Schlimmste war diese Ähnlichkeit. Wie der Mann nach seinem Glas griff, wie er den Bierdeckel zwischen den Fingern drehte, jede Bewegung glich seinen eigenen bis ins Detail. Kein Wunder, dass Eli sabeth ihn stellvertretend verabscheut hatte. Und trotzdem wusste er bis heute nicht, warum. Was damals vorgefallen war. Was dieser Fremde ihr angetan haben mochte, außer dass er ihn gezeugt und sie dann alleingelassen hatte. Da musste mehr sein. Eine ungleich größere Schuld, für die sie ihn, das Spiegelbild, sein Leben lang büßen ließ.
    »Sie ist also tot«, sagte Viktor Bertram leise. So leise, dass es zwi schen dem Klappern der Bestecke auf den Tellern und dem Lachen der Kartenspieler kaum zu hören war.
    Sie ist also tot. Die ersten Worte, die sein Vater direkt an ihn richtete. Adrian starrte ihn an, unfähig, etwas zu antworten. Verärgert durch die Gefühllosigkeit, die er hinter diesen nüchternen Worten vermutete.
    Aber der Mann verlangte keine Erwiderung. Wartete geduldig. »Kann ich sie sehen?«, fragte er schließlich.
    Der brüchige Unterton in der Stimme irritierte Adrian. Zum ersten Mal schaute er ihm direkt in die Augen. Es schimmerte feucht zwischen den Wimpern. Heuchelte der jetzt Trauer. Der? Es konnte nicht sein, dass dieser Kerl trauerte. Wieso sollte er, nach all der Zeit, wieso sollte ausgerechnet er? Alle guten Vorsätze verpufften. Er wollte nichts hören von diesem Mann und Elisabeth und der Vergangenheit.
    »Ich möchte sie noch mal sehen. Bitte.« Kaum hörbar.
    Angeekelt sprang Adrian auf.
    »Was ist denn?«
    Der fremde Vater erhob sich, streckte wieder die Hand nach ihm aus. Adrian schlug sie beiseite. Laut atmend kritzelte er Henrys Namen und Telefonnummer auf einen Zettel, den er aus dem Porte monnaie zerrte, warf einen Fünf-Euro-Schein auf den Tisch und rannte fluchtartig aus dem Lokal. Er hatte kein Wort gesprochen.

* * *

    Es war beinahe vier Uhr nachmittags, als Henry endlich zum Hö rer griff. Vor ihr lag das Formular, in dem Adrians Telefonnummer eingetragen war. Polizeipräsidium. Dienstlich, stand in Klammern dahinter. Sie hatte keine

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