Die Würde der Toten (German Edition)
schon im Kühlraum!«, schmetterte sie ihm anstelle einer Begrüßung entgegen. Ihr Unmut über sein spätes Erscheinen war nicht zu überhören.
»Macht nichts.« Adrian zog ein paar Blatt Papier aus der Jacken tasche. »Ich muss den Mann nicht sehen. Nach Aktenlage hat das schon alles seine Richtigkeit.« Er strich die Seiten auf dem Tisch neben ihr glatt.
»Ich habe den Namen durch den Computer gejagt. Dein Toter, Kolja Bilanow, zuletzt wohnhaft in Frankfurt Riederwald, war 59 Jahre alt, Geschäftsmann, ursprünglich aus der Ukraine. Er hat einen Gebrauchtwagenhandel in Offenbach betrieben, ganz legal, und ist niemals polizeilich auffällig geworden.« Adrian hatte zumindest auf die Schnelle nichts finden können, und für eine intensivere Suche gab es seiner Meinung nach auch keinen Anlass. »Seine Eltern und Geschwister leben heute noch in der Nähe von Sewastopol. Verheiratet ist er nicht. Das erklärt sicher die Über führung und dass sich keine Familienangehörigen um seine An gelegenheiten kümmern. Es ist wohl ein Bekannter von Herrn Bilanow, der alles regelt. Der Name ist, Sekunde … ach, ist ja auch wurscht. Das meiste hat mir eine Angestellte von ihm am Telefon erzählt, wie gesagt, in unserer Datenbank gab es nichts über ihn. Die Eile bei der Sache hat vermutlich mit seiner Zugehörigkeit zur russisch-orthodoxen Kirche zu tun. Das konnte ich nicht genau klären, ist aber naheliegend. Es ist doch so, dass einige Religionen eine Beerdigung in einem bestimmten Zeitraum vorschreiben, oder auf einem bestimmten Friedhof, richtig?«
»Ist so«, stimmte Henry zu. »Juden haben eigene Friedhöfe. Und Moslems kriegen zum Teil große Probleme, weil einige ihrer Vorschriften mit deutschen Gesetzen kollidieren. Aber immerhin gibt es für sie inzwischen viele speziell ausgewiesene Gräberfelder, die ihre angemessene Bestattung in Deutschland möglich machen. Ausrichtung nach Mekka und …« Sie unterbrach ihren Satz. »Wieso grinst du, war was komisch?«
»Ach, nicht der Rede wert.« Adrians Grübchen auf der Wange zuckte weiter. Es war nicht passend, sich über ihre Begeisterung für Details zu amüsieren. Da war so viel Leidenschaft zu spüren, wenn sie in ihrem Element war – ähnlich wie bei manchen Kollegen, wenn sie über Fußball sinnierten oder andächtig die technischen Daten von Formel-1-Wagen herunterbeteten.
»Kolja Bilanow war, wie gesagt, Angehöriger der russisch-or thodoxen Gemeinde Frankfurt. Und das, denke ich, erklärt auch die Anwesenheit der beiden Männer, während du ihn für die Aufbahrung fertig gemacht hast. Üblicherweise werden die Toten zu Hause vorbereitet, und die ganze Zeit bis zur Beerdigung bleibt jemand bei ihnen und – warte, wie heißt das doch gleich …«, er blätterte die Seiten durch, »hier, es wird der Psalter gelesen, was auch immer das genau ist. So wie ich es verstanden habe, werden spezielle Gebete für den Verstorbenen aufgesagt, die rituell vor geschrieben sind. Vermutlich war das die Aufgabe der beiden Be gleiter.«
»Also gebetet haben die aber nicht!« Henry nahm ihm die Zettel ab. Totenwache, hatte der eine gesagt. »Jedenfalls habe ich davon nichts gemerkt«, schränkte sie dann ein und kaute an ihrem rechten Zeigefinger herum.
Adrian lehnte sich neben sie gegen die Tischplatte und las über ihre Schulter gebeugt mit. »Sie werden das nicht unbedingt laut gemacht haben. Ich kann mir vorstellen, dass nicht jeder seinen Glauben ganz offen vor Fremden präsentieren will, da wird dann aus einem vorzutragenden Gebet ein leises Gemurmel.«
»Russisch-orthodox. Hatte ich noch nie.« Henry studierte die Passage mit gerunzelten Brauen. »Steht auch nicht auf dem To tenschein. Die Religionszugehörigkeit ist darauf einfach nicht vorgesehen! Trotzdem hätte ich das wissen müssen.« Sie rieb sich die Nase und zog eine Schnute. »Wahrscheinlich hast du Recht, und es gibt da kein Geheimnis. Entschuldige, dass ich dir wegen nichts die Ohren vollgejammert habe«, fügte sie kleinlaut hinzu.
»Kein Thema. War kein großer Akt, das herauszufinden.«
»Ist mir aber peinlich. Vielleicht hätte ich die beiden Kerle nur fragen müssen. Aber nein, ich sehe gleich eine Verschwörung. Sonst frage ich ja auch. Alles Mögliche, das weißt du ja selbst. Aber Lolek und Bolek haben mich total verunsichert!«
»Lolek und Bolek?«
»Du hast was gut bei mir«, verkündete sie, ohne seine Frage nach den Strichmännchen zu beantworten. Polen, wie sie sich inzwischen
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