Die Würde der Toten (German Edition)
er mit den Fäusten auf seine Oberschenkel.
»Na gut. Ich erzähle es dir, du gibst ja sonst doch keine Ruhe. Ich habe nichts gegessen, weil ich mich in der Mittagspause mit …«, er zerfetzte die Serviette in kleine Stückchen, »mit Viktor Bertram getroffen habe.«
»Cool! Und weiter? Was ist passiert? Habt ihr …«
»Nichts«, unterbrach er sie und stopfte die Fetzchen in den nächsten Aschenbecher. »Gar nichts weiter. Der hat auf die Tränendrüse gedrückt, da hat’s bei mir ausgesetzt! Ich habe ihm deine Nummer gegeben und bin weg.«
»Einfach weg? Aber ihr müsst doch über irgendwas gesprochen haben, bevor du gegangen bist.«
Adrian schüttelte den Kopf und knetete seine Finger. »Nein. Und ich will auch jetzt nicht weiter darüber reden. Nicht über ihn und nicht über Elisabeths Tod.«
»Dann eben nicht.« Henry zog die Füße aus dem Geländer. »Sekunde, schön sitzen bleiben, bin gleich zurück«, rief sie und verschwand im Lokal.
Knackend ließ Adrian die Daumennägel übereinander sprin gen. Den rechten über den linken, dann umgekehrt. Er spürte eine seltsame Unruhe. Henrys bloße Anwesenheit genügte, um unliebsame Erinnerungen aufzuwühlen, ihre Fragen taten ein Übriges. Genau jetzt sollte er zu Hause sitzen, mit Katja telefonieren und sich auf das gemeinsame Wochenende mit ihr freuen. Stattdessen saß er hier in der Kälte.
»Tatatata!« Strahlend und mit einem klebrigen Stück Baklava in der Hand baute sich Henry vor ihm auf. »Finger weg, Mund auf und einfach abbeißen«, kommandierte sie. »Reicht, wenn mir der Honig bis in den Ärmel läuft.«
Adrian gehorchte und legte den Kopf in den Nacken. Katja musste noch warten. Er konnte sie später anrufen. Einen Augenblick ließ Henry das süße Gebäck über ihm kreisen, dann schob sie es zwischen seine Lippen und anschließend den Rest in den eigenen Mund.
»Höllisch lecker!«, nuschelte sie unter zufriedenem Stöhnen.
»Himmlisch!«, gab er seufzend zurück, und beide mussten lachen.
»Ist Völlerei nicht eine der Todsünden?«
Ihre leicht schräg stehenden Augen erinnerten ihn an eine Katze, genau wie die Pose, in der sie sich den letzten Rest Honig von ihrem Handgelenk leckte.
»Schon wieder der Tod? Gibt es für dich kein anderes Thema?«
»Doch, sicher. Aber du hast ein Problem mit dem Tod im Allgemeinen.«
»Wer hat das nicht?«
Sie plumpste wieder neben ihm auf den Stuhl und lutschte einen Finger nach dem anderen ab. »Keiner, der sich ernsthaft damit auseinandersetzt. Du hast offenbar bisher versucht, den Tod zu ignorieren. Aber wer sich weigert, dem Tod ins Gesicht zu sehen, der begreift auch das Leben nicht!«
Da war sie wieder, die Erinnerung. Dem Tod ins Gesicht sehen. Adrian starrte auf seine Hände. Sein Blickfeld verengte sich, und ihre Stimme verwischte zu einem fernen Rauschen.
» Es ist eine Frage der inneren Einstellung zum Leben. Auch eine grundsätzliche, philosophische Überlegung.«
Er hörte Bremsen quietschen. Überall Blut. Auf seinen Händen. Und Blut in seinem Gesicht.
»Adrian?«
Die Sirene des Rettungswagens dröhnte in seinen Ohren.
»Die eigene Vergänglichkeit zu akzeptieren, ist nicht leicht. Es ist normal, zuerst einmal Angst vor dem Tod zu haben.«
Er hatte nicht aufhören können, den Brustkorb zusammenzupressen und seinen Atem in den Mund zu hauchen. In das Heulen der Sirene hatte sich das Weinen der Frau gemischt.
»Adrian, hörst du mir überhaupt zu?«
Der Notarzt hatte nur still den Kopf geschüttelt.
Henry berührte behutsam seinen Arm, und Adrian kämpfte sich zurück in die Realität. »Was hast du gesagt?«
»Dass es normal ist, den Gedanken an den eigenen Tod bedrohlich zu finden.«
Mühsam schob er die Vergangenheit beiseite und konzentrierte sich darauf, ihr zu antworten. »Meinen Tod? Nein, vor dem habe ich keine Angst.«
»Wovor dann? Der Tote selbst ist auch nicht bedrohlich. Aber du machst beim Anblick meiner Kunden den Eindruck, als ob du ihnen ihren Tod persönlich übel nimmst. Du hast keinem von ihnen jemals ins Gesicht gesehen.«
Er nahm die Brille ab und rieb seine Augen bis sie brannten. Wieder keine Tränen. Keine einzige seit diesem Tag. Diesmal war er froh darüber.
Henry beobachtete ihn erstaunt. Offenbar hatte sie einen heiklen Punkt berührt. Müde sah er aus, grau und verletzlich. Sie konnte kaum glauben, dass sie ihn auch nur eine Sekunde ernsthaft verdächtigt hatte, beim Tod seiner Mutter nachgeholfen zu haben. Dieser Mann war garantiert kein
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