Die Würde der Toten (German Edition)
unterirdisch schlechten Witzen. Immerhin konnte er kräftig zupacken und kannte sich aus im Bestattungsgewerbe. Nachdem sie zwei Verstorbene abgeholt hatten, lieferten sie einen in der Trauerhalle ab. Sven würde sich dort um alles kümmern, und erleichtert kehrte Henry in ihr stilles Reich zurück. Auf weitere Vergleiche ihrer Tätigkeit mit der eines Pizza boten oder der Bezeichnung als Last Escort Service, gefolgt von markerschütterndem Gelächter, konnte sie gerne verzichten.
Zu ihrer Überraschung erwartete sie im Versorgungsraum noch eine Leiche. Anneliese hatte offenbar Recht und die Finanzprobleme konnten jetzt endlich mit Arbeit behoben werden. Ohne ihn genauer zu betrachten, schob sie den Neuen in die Kühlkammer. »Hier geht’s immer schön der Reihe nach«, verkündete sie ihm dabei.
Siedendheiß fiel ihr ein, dass sie den Anruf in der Gärtnerei vergessen hatte. »Genau, Frau Körner, immer alles schön der Reihe nach!«, schimpfte sie und griff zum Telefon.
Zwei Stunden später stand Henry vor Eberhard Moosbachers Schreibtisch und wedelte mit dem Totenschein der Überraschungsleiche vor seiner Nase herum. »Moosi, mit dem Totenschein hier stimmt was nicht. Der ist von einem niedergelassenen Arzt ausgestellt, was bedeutet: natürliche Todesursache. Aber der Kerl auf meinem Tisch …«
»Du irrst dich.« Eberhard Moosbacher schnitt ihr das Wort ab und schenkte dem Dokument in ihrer Hand keinerlei Beachtung.
»Aber …«
»Nichts aber. Mach nur deine Arbeit, alles Weitere muss dich nicht interessieren. Die Formalitäten habe ich bereits geregelt.«
Henry knirschte mit den Zähnen. Es missfiel ihr außerordentlich, was hier vor sich ging. Moosi wurde unaufmerksam, konzentrierte sich anscheinend mehr aufs reine Geldverdienen als auf die berufliche Ethik, die er doch immer so hochgehalten hatte.
»Jetzt habe ich zu tun, Henriette! Und du auch, also bitte.« Er hielt den Blick auf seine Papiere gesenkt und machte eine Geste in ihre Richtung, als wolle er eine lästige Fliege verscheuchen.
Henry zuckte die Schultern. »Wie du meinst. Du bist der Boss.« Es sah ihm nicht ähnlich, unsauber zu arbeiten.
Vielleicht lag sie wirklich falsch. So wie bei dem toten Ukrainer am Freitag. Eine verdammt peinliche Angelegenheit.
Heute ging es nur um eine einfache Versorgung, der gleich am nächsten Morgen die Überführung ins Krematorium folgen sollte . Der Mann war tot. Was also spielte es genau genommen für eine Rolle, warum das so war. Vor allem für sie. Henry trollte sich zurück in den Versorgungsraum, legte den Leichenschauschein beiseite, zog die Gummihandschuhe über, bereitete die notwendigen Utensilien für die letzte Reinigung vor und entkleidete den Mann.
Sie war keine Medizinerin, aber sie hielt es durchaus für möglich, dass einige seiner Rippen gebrochen waren, ebenso wie das Jochbein links unter dem geschwollenen Auge. Zahlreiche weite re Schwellungen und dunkle Stellen verteilten sich vom Hals abwärts über den ganzen Körper. Zweifelnd überflog sie wieder die Angaben auf dem Papier. Der Tod war angeblich erst vor drei Stunden eingetreten. Beinahe die ganze Zeit war er schon hier. Gerade bei einem so frischen Toten hätten die Leichenflecken durch eine Verlagerung beim Transport innerhalb der kurzen Zeit verschwinden müssen, stattdessen zeigten sich deutlich mehr Flec ken als üblich. Demnach waren sie wohl nicht normal oder nicht frisch. Oder beides. Der Verdacht lag nahe, dass es sich um Hämatome handelte, die bereits vor seinem Tod entstanden waren .
Probeweise massierte Henry den blau-schwarz verfärbten Oberarm. Nichts. Sie versuchte es am Bauch. Keine Chance. Im Gegenteil. Ihre geübten Finger ertasteten eine Gasansammlung im Bauchraum, die, genau wie die nicht mehr wegzudrückenden Blutablagerungen, darauf hindeutete, dass die Zersetzung vor mehr als zehn Stunden begonnen hatte.
»Du bist nicht im Schlaf gestorben und hattest auch unter Garantie keinen Herzinfarkt. Du warst 36 Jahre alt und nicht übergewichtig, deine Finger sehen nicht aus wie die eines starken Rauchers. Aber du hast überall Schürfwunden an den Knöcheln. Du warst sportlich und körperlich gut in Form, mit ausgeprägten Muskeln. Dein Herz hat definitiv aufgehört zu schlagen, also wäre Herzstillstand nicht ganz gelogen. Die Frage ist, warum es nicht mehr schlägt. Aber wenn ich dich so ansehe, ist es mir eigentlich klar, und ich frage mich nur: Wer hat dich so lange geschlagen, bis dein Herz nicht mehr
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