Die Würde der Toten (German Edition)
mache ich.
Er war nicht clever genug gewesen.
* * *
Einen Ordner auf dem Schoß und die Füße auf dem Schreibtisch lümmelte Henry im Büro. Eberhard Moosbacher war noch nicht da. Sie wühlte mit der linken Hand durch ihre Haare und drehte sie zu einem wirren Zopf. Sie war viel zu früh aufgewacht und Ömers Laden noch geschlossen, als sie das Haus verlassen hatte. Nach einem hastig verschlungenen Fastfood-Frühstück am Bahnhof war sie einfach losgefahren.
Jetzt war es kurz nach sieben Uhr, und sie wartete auf eine Erleuchtung. Sonst hatte sie nie ein Problem, den richtigen Blu menschmuck zusammenzustellen. Elisabeth von Bragelsdorf liebte Rosen, aber Adrian hatte Rosen ausgeschlossen. Also was dann?
Die meisten Toten gaben etwas von sich preis, wenn sie auf ihrem Tisch lagen. Ihre Gesichter, Falten, Haare und Fingernägel erzählten Geschichten, gewährten ihr einen Blick in ein vergangenes Leben. Und sie, Henry, durfte für eine kurze Zeit Vermittler sein zwischen Vergangenheit und Zukunft, Fortbestand und Endlichkeit. Doch das funktionierte nicht bei dieser Frau. Schon bei der Versorgung war es ihr nicht möglich gewesen, einen Zu gang zu finden. Immer wieder schoben sich Adrians Worte in ihre Überlegungen. Seine unterdrückte Wut. Dabei sollte er keine Rolle spielen, nicht in diesem Moment ihrer Zwiesprache mit seiner Mutter.
Auch am Sonntag hatte sie den halben Vormittag im Keller gesessen und versucht, Elisabeth ein paar Antworten zu entlocken. War der Tod das Ziel oder nur ein Zwischenstopp vor der nächsten Etappe? Klärten sich die Fragen des Lebens, wenn der Geist sich vom Körper trennte? Warteten Klarheit und Frieden auf der anderen Seite? Elisabeth sah nicht danach aus.
Wieder betrachtete Henry die alten Fotos. Rosen, Rosen, Rosen. Warum verdammt noch mal nicht?
Entnervt streifte sie einen Gummiring über die Haare, zog den Zopf so fest, dass die Kopfhaut schmerzte. Sie machte sich viel zu viele Gedanken, sollte das Warum einfach ignorieren. Keine Rosen, kein Duft, das waren die entscheidenden Kriterien. Punkt. Also irgendwelche anderen Blüten. Doch es fiel ihr schwer, die symbolischen Bedeutungen der einzelnen Blumen auszublenden. Hortensien standen für Verständnis, in viktorianischer Zeit auch für Eitelkeit; Gerbera für Fröhlichkeit und Ausdauer; Chrysanthemen bedeuteten Wahrheit und ein langes Leben; und Orchideen, die Königinnen unter den Blumen, galten als Sinnbild von Liebe und Schönheit. Alles Attribute, die sie nicht mit Elisabeth in Einklang bringen konnte. Selbst das klassische Weiß mit seinem Bezug zur Unschuld und zum ewigen Leben erregte Henrys Missfallen.
Sie klappte den Ordner zu und warf ihn auf den Tisch. Sollte doch die Gärtnerei entscheiden, welcher Schmuck den Sarg am Ende zierte. Es gab überhaupt keinen Grund, sich damit zu quälen. Sie beschloss, gleich um acht Uhr dort anzurufen. Es war höchste Zeit, nur noch zwei Tage bis zur Beerdigung. Eigentlich viel zu spät, um noch an diesen Details festzuhängen.
Verärgert sprang Henry auf. Sie brauchte entschieden zu lange für alles, was mit Elisabeth von Bragelsdorf zusammenhing. Und Adrian war beim besten Willen keine Hilfe.
In der kleinen Küche neben dem Büro setzte sie Kaffee auf. Sämtliche Entscheidungen, die die Grabstelle und die Feier betrafen, hatte sie ihm mühsam abringen müssen. Er kriegte einfach die Zähne nicht auseinander, wenn es um dieses Thema ging. Als ob Ignorieren etwas an den Tatsachen änderte.
Die Kaffeemaschine gurgelte, und Henry spreizte die Finger über dem ausströmenden Dampf. Sie liebte die feuchte Hitze auf der Haut. In ihren Gedanken vereinten sich schon die wohlige Wärme und das bittere Aroma mit der Süße des Zuckers und dem weichen Gefühl von Milch auf der Zunge und besänftigten sie ein wenig. Sie füllte eine große Tasse bis zum Rand und schlürfte ge nießerisch. Die letzten Tropfen aus dem Filter verbrannten zischend auf der heißen Platte. Nach dem zweiten Kaffee war sie bereit für den kommenden Arbeitstag. Sie entfernte das provisorische Gummiband, zähmte mit Wasser und Bürste ihre Haare, steckte sie im Nacken zusammen und befestigte eine lose Locke mit einer Spange über dem Ohr.
Eberhard Moosbacher kam eine halbe Stunde später mit dem ersten Auftrag und einer neuen Aushilfe zu ihr. Sven Fiedler war fast ebenso breit wie hoch, grinste wie ein Honigkuchenpferd und beglückte sie in den nächsten zwei Stunden mit melodischem Mannheimer Dialekt und
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