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Die Würde der Toten (German Edition)

Die Würde der Toten (German Edition)

Titel: Die Würde der Toten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Pons
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Macht fanden immer einen Weg zueinander. Westermann hatte sie mit nach Deutschland genommen; mit neuen Papieren und einem frisierten Lebenslauf. Sie waren wieder im Geschäft, und von nun an ging es bergauf.
    Seit mehr als zehn Jahren lebten sie inzwischen in Frankfurt, und Vytautas beherrschte die deutsche Sprache fast besser, als die Sprache seiner Kindheit. Lernen und sich anpassen, das brachte ihn voran. Vorwärts schauen und nicht zurück. Sein Verstand reichte nicht aus, um ganz an die Spitze zu gelangen, aber er reichte aus, um genau diesen Umstand zu begreifen. Er akzeptierte seinen Platz in der Rangordnung und verachtete all jene, die es nicht schafften, sich mit den Gegebenheiten zu arrangieren. Wie Kolja Bilanow zum Beispiel.
    Vytautas hatte kein Problem mit der Anwendung von Gewalt. Sie gehörte dazu, als Mittel zum Zweck, und manchmal musste man töten, um die Ordnung wieder herzustellen. Aber er tötete nicht gern. Im Gegensatz zu seinem Bruder.
    Der heilige Geist kam über die Gaben, und er beneidete die Gläubigen, die sich nun aufmachten, die Eucharistie zu empfangen. Sie gehörten hierher, sie gehörten zusammen. Aber er, er ge hörte nirgendwohin, außer vielleicht zu Rimas. Doch der brauchte ihn nicht mehr. Der folgte Westermann wie ein treuer Hund. Leise seufzend rieb er sich den Schädel. Genau das sollte er selbst besser auch tun und aufhören zu grübeln. Er blieb in seiner Bank sit zen und betrachtete die andächtig gesenkten Häupter vor dem Altar. Ihm lag es fern zu beten. Weder für sich, noch für andere. Oder gar bei einem Priester zu beichten.
    Die bevorstehenden Ereignisse der kommenden Nacht bereiteten ihm Kopfschmerzen. Er würde dabei sein und zusehen und er wusste, dass es notwendig war. Dennoch verspürte er diesmal fast so etwas wie Mitleid. Ungelenk faltete er die Hände.

* * *

    Warum er die Briefe vor Katja geheim hielt, konnte Adrian nicht sagen. Vielleicht, weil er die Art fürchtete, wie sie missbilligend die Augenbrauen hochzog, wenn er etwas ihrer Meinung nach Unsinniges machte. Vielleicht aber auch nur, weil er selbst nicht wusste, was genau er damit anfangen wollte.
    Er hatte Kaffee gekocht, die Briefe in die Sockenschublade gesteckt und war dann zurück unter die Decke gekrochen, ganz nah an Katja heran, ohne sie mit seinen klammen Händen zu berühren. Sie sollte noch eine Weile weiterschlafen.
    Wie es wohl wäre, jeden Tag neben ihr zu erwachen, in dieser Wohnung in München, die sie unbedingt haben wollte? Keine Ab schiede mehr, kein Warten aufs Wochenende, kein Abstand, keine Geheimnisse. Keine versteckten Briefe. Er rollte sich auf den Rücken und wartete, bis der Duft des frischen Kaffees sie ganz langsam weckte.
    Erst nachdem Katja am Nachmittag abgefahren war, holte Adrian die Umschläge wieder hervor und betrachtete sie lange, ehe er sich entschloss, die Verschnürung zu lösen. Alle Briefe trugen dieselbe Handschrift. Er zählte mehr als fünfzig. Keinen einzigen hatte Elisabeth geöffnet. Adrian nahm den ältesten Brief und versuchte, den Zeigefinger in den schmalen Spalt an de r Klebelasche zu schieben. Die Kante schnitt in sein Nagelbett. Mit einem geknurrten Schmerzenslaut zog er den Finger zurück und steckte ihn in den Mund. Viele der Briefe stammten aus der Zeit, in der Elisabeth bereits mit Gunther von Bragelsdorf verheiratet gewesen war. Der schied als Schreiber also aus. Es brauchte nicht viel Phantasie, um sich einen anderen Absender vorzustellen. In diesen ungelesenen Zeilen schlummerte Elisabeths Vergangenheit und vielleicht auch seine eigene.
    Adrians Finger hinterließ einen feuchten Abdruck auf dem Papier, als er die Briefe wieder zu einem Stapel zusammenband und anschließend unter den Socken vergrub.

Tag 8 – Montag
    Vor seinem rechten Auge verschwammen die Konturen zu einem wabernden Brei, das Licht blendete ihn. Er verstand nicht, was gerade passierte. Alles war doch nach Plan gelaufen. Lászlós Mund öffnete sich, seine Lunge verlangte nach Sauerstoff. Die Worte, die sich über seine Lippen gedrängt hatten, beschämten ihn zutiefst. Er war ein elender Feigling. Ein Verräter.
    Vergib mir, Jürgen, mein Freund. Vergib mir.
    Hilflos klopfte seine Hand auf den Boden. Die Geräusche um ihn wurden leiser, der Schmerz verebbte.
    Laciká, was machst du nur?, fragte eine traurige Stimme in seinem Kopf, die klang wie die seiner Mutter. Er wollte wieder klop fen, aber seine Hand gehorchte ihm nicht. Plötzlich begriff er. Sterben, Mama, das

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