Die Würde der Toten (German Edition)
Herbstwetters trafen sich Adrian und Viktor am Mainufer. Die ersten Minuten gingen sie schweigend nebeneinander her, bis sich wie selbstverständlich ein Gleichschritt einstellte.
Feuchtes Laub bedeckte die Grünanlagen mit einer dicken Schicht, nur die Wege waren bereits davon befreit. Auf den Bänken saßen fröstelnde Pärchen eng aneinandergekuschelt, und Rentner, die mit altem Brot Enten fütterten.
Adrian deutete zur anderen Seite des Flusses hinüber. Hinter den imposanten Museumsbauten, die das Ufer säumten, hatte Elisabeth bis zuletzt gewohnt. Und er auch über viele Jahre.
»Wieso hast du mich nie besucht?«
Viktor zog eine Tüte mit gesalzenen Pistazien aus der Manteltasche. »Elisabeth wollte es nicht. Sie hat mit rechtlichen Schritten gedroht, wenn ich versuchen sollte, mit dir Kontakt aufzunehmen. Trotzdem war ich in den ersten Jahren oft in deiner Nähe, habe es drauf angelegt, euch zu begegnen.« Verlegen schaute er zu Boden. »Ja, ich habe euch regelrecht aufgelauert. Aber Elisabeth hat kein Gespräch zugelassen. Später war ich mehrfach kurz davor anzurufen, wenn ich wusste, dass du alleine warst.«
»Aber du hast es nicht getan.«
»Nein. Was hätte ich denn sagen sollen? Hallo Junge, hier ist dein Vater, der nicht dein Vater sein darf, dem deine Mutter den Umgang mit dir verboten hat, und der nicht weiß, was er eigentlich falsch gemacht hat.« Er knackte die Schale auf und schob den grünen Kern zwischen die Zähne, dann hielt er Adrian die Tüte hin, der kopfschüttelnd ablehnte. »Davon abgesehen – hättest du mit mir geredet?«
Adrian lachte leise auf. »Niemals!«
»Das dachte ich mir. Trotzdem war ich natürlich feige«, bekannte Viktor. »Ich hatte Angst, auch von dir zurückgewiesen zu werden.« Ein frischer Wind kräuselte das Wasser, und er klappte den Kragen seiner Jacke hoch.
»Anders wäre es auch nicht gekommen. Entweder hätte ich dich einfach stehen lassen oder verprügelt. Ich war irrsinnig wütend auf dich.«
»Jetzt nicht mehr?«
Nun nahm Adrian doch eine Pistazie, um seine Hände zu be schäftigen. Die Frage konnte er nicht beantworten. »Schau uns an – Vater.« Unsicher blickte er Viktor von der Seite an. »Wir können rein äußerlich nicht verleugnen, dass wir verwandt sind. Und offenbar sind wir uns auch sonst ziemlich ähnlich. Sie hat es mir immer wieder zum Vorwurf gemacht.« Er zog eine Grimasse. »Ich habe dich gehasst. Und Elisabeth auch. Als ich ihr erzählt habe, dass ich die Aufnahmeprüfung geschafft hatte, um Polizist zu werden, hat sie drei Wochen nicht mit mir geredet. Ohne Erklärung.«
»Es muss verdammt hart für sie gewesen sein«, seufzte Viktor. »Sie wollte mich aus ihrem Leben streichen, und dann bist du neben ihr groß geworden, und mit jedem Tag wuchs die Ähnlichkeit.«
»Du bedauerst sie?« Adrian blieb empört stehen. »Sie?«
»Elisabeth konnte der Vergangenheit nicht entkommen. Durch dich war ich immer in ihrer Nähe, und sie hatte ihren Fehler direkt vor Augen.«
»Ich war also ein Fehler, ja?«
»Nein! So habe ich das nicht gemeint.«
Viktor legte die Hand auf Adrians Arm, der sie wütend ab schüttelte und zwei schnelle Schritte auf die Uferkante zu machte, Distanz zwischen sich und den Mann brachte, dem er seine verpfuschte Kindheit zu verdanken hatte. Und das dauernde Gefühl, nicht erwünscht zu sein.
»An meinem zwanzigsten Geburtstag«, brüllte er Viktor unvermittelt an, »hat sie mich vor die Tür gesetzt. Sie hat mich morgens angesehen, mir gratuliert, mit einem verkrampften, verlogenen Lächeln im Gesicht, und als ich am Abend nach Hause kam, stand mein Koffer vor der Tür und das Schloss war ausgewechselt. Und warum? Verdammt, warum? Das habe ich mich immer gefragt. Aber sie hat mir nie eine Erklärung gegeben. Und nun weiß ich, auch das geschah deinetwegen. Weil du zwanzig warst, als du ihr über den Weg gelaufen bist und mit ihr einen Fehler in die Welt gesetzt hast!« Er schlug sich mit der Faust auf die Brust. »Mich!«
»Nicht du warst der Fehler, Adrian. Ich war ihr Fehler!«
Mit einem gezielten Tritt beförderte Adrian eine Kiesfontäne ins Wasser. Er spürte wieder ihren Blick, er hörte ihre Stimme, er roch ihr verfluchtes Rosenparfüm. Sie hatte ihn so oft gedemütigt.
»Ich hatte keinen Vater«, knurrte er halblaut, mit dem Gesicht zum Fluss. Es war ihm egal, ob Viktor ihn hören konnte. Ein weißer Ausflugsdampfer zog vorbei. »Und eine Mutter hatte ich auch nicht.«
»Wieso nicht?« Leise war
Weitere Kostenlose Bücher