Die Würde der Toten (German Edition)
Viktor neben ihn getreten. Adrian hob die Achseln.
»Sie hat mich versorgt. Gewaschen, ernährt, zur Schule geschickt, kontrolliert, geprüft. Verwaltet wie ein Möbelstück. Sie verbot mir, sie anders als Elisabeth zu nennen, als ich sechs war. Von dem Tag an war ich für sie kein Kind mehr. Für Mutter oder Mama wurde ich bestraft.«
»Was hat sie gemacht?«
»Je nachdem. Zimmerarrest oder Prügel oder beides.«
»Und was hast du gemacht?«
»Stillgehalten.« Er hatte lange stillgehalten. Auch wenn sie nachts in sein Bett gekrochen war und ihn an sich gepresst hatte, gestreichelt, bis ihm die Luft wegblieb. Er hatte stillgehalten. Den Mund gehalten. Sich geschämt. So wie jetzt.
»Ich wollte doch alles richtig machen. Funktionieren.«
Viktor vermied es, Adrian anzusehen. »Es ist zu spät, plötzlich dein Vater sein zu wollen. Aber … vielleicht ist es nicht zu spät, dir ein Freund zu sein?«
Mit einer weit ausholenden Bewegung schleuderte Adrian die Pistazie in den Main. Salz klebte an seinen Fingern. Egal was du tust, dachte er plötzlich, es bleibt immer eine Spur davon an dir zurück.
»Hast du noch welche?« Adrian streckte die Hand aus, und Viktor reichte ihm die Tüte. Die nächste Pistazie steckte er in den Mund und lutschte das Salz langsam herunter. Spuren hatten manchmal durchaus auch etwas Positives. Und ihnen zu folgen, konnte gut sein, auch wenn man nicht wusste, wohin sie führten.
»Wir können es versuchen«, erwiderte er bedächtig und knackte eine weitere Schale.
* * *
Auf dem Weg zurück ins Präsidium ließ Adrian das Gespräch mit Viktor nicht los. Zum Glück wartete ausreichend Arbeit auf ihn und Kollegen, die mit ihren Aufträgen für Ablenkung sorgten. Er durfte nicht zulassen, dass Elisabeth wieder Besitz von seinem Leben ergriff.
Am späten Nachmittag nahm er die Leichenfotos wieder zur Hand. Totgeprügelt, hatte Henry gesagt. Und genau so sahen die Verletzungen aus. Schlimmer als nach einem harten Boxkampf. Alles deutete darauf hin, dass der Mann sich gewehrt hatte. Offenbar waren nicht nur Fäuste im Spiel gewesen, sondern auch Ellbogen, Knie und Füße zum Einsatz gekommen. Wahrscheinlich hatte das Opfer Schläge und Tritte nicht nur eingesteckt, sondern auch ausgeteilt.
Adrian fiel ein Zeitungsartikel ein, den er vor einigen Wochen gelesen hatte; über eine Free Fight Veranstaltung. Er konnte sich nicht mehr an Details erinnern, nur, dass sich Politiker scharenweise aufgeregt und ein Verbot gefordert hatten. Obwohl das eigentlich eine ganz legale Sache war, mit offiziellen Regeln und Schiedsrichtern. Er öffnete den Internet-Browser. Eine spezielle asiatische Kampfrichtung verwandt mit Karate oder so. Die genaue Bezeichnung wusste er nicht mehr.
Er tippte die Worte »Free Fight Verbot« in die Suchmaske. Sofort landete er Dutzende Treffer. Er überflog die erste Seite. Night of Pain. Das war es. Er kopierte die Zeitungsartikel und die Stellungnahme des Veranstalters, die Aussagen des Kampfsportverbandes und durchforstete dann die Fan-Foren. Muay Thai, Kickboxen. Ein Bundesverband mit Richtlinien und Prüfungsvorschriften, die verdammt nach deutscher Bürokratie aussahen und sich dank der aus der Ursprungssprache übernommenen Begriffe lasen wie die Speisekarte eines indonesischen Restaurants. Offensichtlich gab es eine wirklich saubere sportliche Basis. Jede absichtliche, unnötige Gewaltanwendung wurde strikt abgelehnt. Nur in dem einen oder anderen Forenbeitrag schimmerte durch, dass da durchaus auch Menschen waren, die gerne noch härtere Kämpfe sehen wollten. Mehr Schmerz, mehr Blut. Wo es eine Nachfrage gab, gab es Leute, die bereit waren zu zahlen, und wo immer Geld im Spiel war, fand sich ein Anbieter, um den Markt zu bedienen.
Er musste tiefer graben. Viel tiefer. Aber dazu hatte er jetzt keine Zeit. Auch wenn die Nachforschungen seine Neugier geweckt hatten.
Der Mann war tot und eingeäschert, daran würde sich nichts mehr ändern. Es gab noch genügend andere unerledigte Aufgaben auf seinem Schreibtisch, und für deren Erledigung bezahlte man ihn.
* * *
Als Adrian am Abend nach Hause kam, hörte er noch auf dem Flur das Telefon läuten. Er wusste, dass Katja am Apparat sein würde. Er hatte sie wieder nicht angerufen und sein Handy auf die Mailbox umgestellt.
»Ich versuche seit Stunden dich zu erreichen! Gestern Abend hast du dich auch nicht gemeldet. Wo steckst du denn immerzu?«
»Erst auf der Arbeit, dann beim Bestatter, dann wieder auf der
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