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Die Würde der Toten (German Edition)

Die Würde der Toten (German Edition)

Titel: Die Würde der Toten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Pons
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wie er bis zuletzt zurückgeschreckt war, sie wirklich anzusehen. Nun war es zu spät. Verwirrt drehte er sich um.
    Durch den Seiteneingang betrat Henry die Kapelle. Unauffällig, im schwarzen Anzug, die wilden Locken gebändigt und streng zurückgesteckt. In der Hand trug sie einen weiteren Kranz, den sie vor dem Sarg ablegte. Rasch ordnete sie die Bänder der Schleife, hielt dabei die Wimpern gesenkt. Als sie sich wieder aufrichtete, streifte ihn ihr Blick. Gleichzeitig ertönten die ersten Klänge des Requiems, und Adrian setzte sich neben Katja in die erste Reihe. Mit feierlicher Miene nahm der Pfarrer seinen Platz ein und wartete mit gefalteten Händen bis zum Ende der Musik.
    Adrians Augen folgten Henry bis zur Tür. Zwischen seinen Schenkeln breitete sich eine heiße Welle aus. Er schnappte nach Luft, schluckte trocken. Katjas Hand ruhte auf seinem Knie. Sie musste das missverstehen, wenn sie es bemerkte. Denn die plötzliche Erektion ging eindeutig auf Henrys Konto. Es war Henrys Blick gewesen, der sie ausgelöst hatte, als er ihn streifte. Durch die blassen Wimpern hindurch. Unter denen ihre grünen Katzenaugen geleuchtet hatten, in der Nacht, als sie nebeneinander gesessen hatten.
    Henry hatte keine Fragen mehr gestellt. Nur zugehört und selbst erzählt. Er erinnerte sich schwach an einen grauen Strickpullover mit zu langen Ärmeln, der sich weich anfühlte. Sofort überlegte er, wieso er das wusste. Und wieso er wusste, dass sie am liebsten Pfefferminzschokolade mochte. Sein Kopf dröhnte immer noch, und er musste sich anstrengen, den Worten des Pfarrers zu folgen, der inzwischen mit leiser Stimme sprach.
    Henry war nicht mehr zu sehen, und seine Atmung normalisierte sich.

    Während die Trauergäste ins Freie drängten, trat Viktor neben Adrian, der etwas ratlos in der Trauerhalle stand und sich nicht erinnerte, was als Nächstes zu tun war. Katja hatte er aus den Augen verloren.
    »Zeit zu gehen«, sagte Viktor leise.
    »Warte, ich hab was für dich.« Aus der Innentasche des Jacketts zog Adrian die Briefe, die er bei Elisabeth gefunden hatte. »Das sind deine, nicht wahr? Ich dachte, du willst sie vielleicht wiederhaben.«
    Viktor nickte, dann klopfte er Adrian mit dem Stapel kurz auf die Schulter. »Danke.« Er ließ Adrian den Vortritt und blieb hinter ihm zurück, als dieser nach draußen ging. Aus dem Augenwinkel sah Adrian, wie er die Tür der Trauerhalle von innen schloss.
    Die Efeublätter an der Wand der Trauerhalle glänzten feucht. Neben den mächtigen Sandsteinsäulen links und rechts des Ausgangs waren zu Kugeln getrimmte Kübelpflanzen platziert. Geschützt durch die weit ausladenden Kronen alter Platanen waren sie während des vorangegangenen Schauers fast vollständig trocken geblieben.
    Für einen Augenblick beneidete Adrian die Raucher, die die Gelegenheit nutzten, sich schnell eine Zigarette anzuzünden, hastig einige Züge inhalierten und so die wenigen Minuten überbrückten, die nötig waren, die Blumengebinde und Kerzen beiseite zu räumen und den Weg für den Sarg frei zu machen. Adrian wusste mit seinen Händen nichts anzufangen, starrte abwechselnd auf die Bänke unter den Bäumen und den Mülleimer mit den ausgebrannten Grablichtern.
    Dann öffnete sich die Tür wieder, der Sarg wurde herausgebracht, hinter ihm folgte der Pfarrer. Henry war nicht zu sehen, und auch Viktor konnte Adrian nicht entdecken.
    Dafür tauchte Katja neben ihm auf, hakte ihn unter und begleitete ihn mit versteinertem Gesicht. Pflichterfüllung. Es galt noch, die eigentliche Beerdigung hinter sich zu bringen. Das hatte sie versprochen.

    Im Anschluss an die kurze Zeremonie am offenen Grab nahm Adrian die Beileidsbekundungen entgegen. Katja hielt sich abseits. Er wusste, ihr war das ganze Schauspiel zuwider. Außerdem war sie wütend auf ihn, nachdem sie am Morgen seine Wohnung verl assen vorgefunden hatte und mehr als eine Stunde auf ihn warten musste, bis er schließlich mit einer grässlichen Alkoholfahne durch die Tür gestolpert kam. Dass er ihre Auforderung, Stress einfach runterzuspülen, so wörtlich nehmen würde, hatte sie wohl nicht erwartet. Auf ihre bissige Frage, ob sein »neuer Vater« hinter dem Besäufnis stecke, hatte er nur ein unhöfliches Schnauben von sich gegeben, ehe er ohne weitere Erklärung oder Entschuldigung unter die Dusche getaumelt war. Was hätte er auch sagen sollen? Die Wahrheit hätte die Situation garantiert nicht verbessert. Also hatte er sich wortkarg gegeben, wie

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