Die Würde der Toten (German Edition)
Lagerraums. Beim Aussteigen zog Henry die Strickjacke vor dem Bauch zusammen. Ihre Finger krallten sich in den flauschigen grünen Stoff ihrer Jacke, und sie bemühte sich, Bolek rasch nach drinnen zu folgen, ohne mit den schmierigen Tonnen in Berührung zu kommen.
Im hinteren Teil des Lagers erkannte sie im Halbdunkel Lolek. Gemeinsam mit einem weiteren Mann machte er sich an einem auf dem Boden liegenden Haufen zu schaffen, den sie in eine Plas tikplane einzurollen versuchten. Die Schuhe der beiden hinterließen braun-rote Abdrücke auf dem Beton.
Henry brauchte nicht lange nachzudenken, um zu wissen, dass es sich um ihren nächsten Auftrag handelte, der da versandfertig verpackt wurde. Schnell wandte sie sich ab. Der Tod, den sie immer als Vertrauten, ja beinahe als Freund betrachtet und nie gefürchtet hatte, zeigte in Gegenwart von Westermann oder seinen Männern ein fremdes, beängstigendes Gesicht.
Auf der rechten Seite des Raums führten drei Stufen hinauf zu einer geöffneten Tür, die den Blick in die Restaurantküche freigab. Essensgeruch vom Vorabend strömte heraus. Zwiebel, Frittierfett, abgestandener Rauch. Das Geländer rostete, Farbe blätterte inklusive Putz in großen Stücken von der Hauswand.
Oben in der Küche holte eine schwarzhaarige Matrone ein in Zeitungspapier gewickeltes Päckchen aus einer Schublade und reichte es an Westermann weiter. Ihre Miene blieb ausdruckslos, die Vorgänge im Lager interessierten sie offenbar nicht. Sie strich über ihr Kleid und legte sich dann die Hand auf den mächtigen Busen, während Westermann den Inhalt des dicken, länglichen Bündels überprüfte. Zum Abschluss schüttelte er der Frau die Hand, dann schlenderte er die Treppe hinunter.
Er wirkte wie immer, elegant und souverän, als sei er direkt aus einem Modemagazin entsprungen. Nadelstreifen, glänzende Lack schuhe. Doch sein Gesichtsausdruck verriet wachsenden Unmut, als er Henry ansah. Bevor er jedoch etwas sagen konnte, klingelte sein Handy. Mit erhobener Hand gebot er Bolek und Henry stehen zu bleiben und Abstand zu halten, dann nahm er das Gespräch entgegen.
»Sag ihm, dass ich nicht verhandle. Sein Laden wirft genug ab. Der Preis ist fix, zahlbar wöchentlich und pünktlich – damit das auch so bleibt.« Mit einer zornigen Bewegung ließ er das Handy zuschnappen und schob es in die Anzugsinnentasche.
»Was soll das?«, herrschte er Bolek an und fuchtelte mit dem Päckchen. »Wieso schleppst du sie hier rein? Du solltest sie nur abholen, damit wir keine Zeit verlieren, aber natürlich im Wagen lassen, du Idiot, hinten!«
Erschrocken schaute Henry zu Boden. Es ging sie nichts an, was hier passierte, was in dem Päckchen war oder wo sie sich befand, und es konnte ein Fehler sein, auch nur etwas zu ahnen. Sie wollte definitiv nicht in einem Plastiksack enden.
»Dann steige ich mal wieder ein«, murmelte sie und stolperte hastig nach draußen. Bolek folgte ihr und verriegelte die Türen, kaum dass sie im Fond des Wagens Platz genommen hatte.
Die Minuten dehnten sich scheinbar endlos, während Henry auf der Rückbank kauerte. Den Kopf an die undurchsichtige, schwarz getönte Scheibe gelehnt versuchte sie, nichts zu hören und nichts zu sehen. Aber das Denken konnte sie nicht ausschalten.
In dem Zeitungsbündel konnten Drogen stecken. Oder Geld. Eine ganze Menge Geld, selbst wenn es nur Zwanziger enthielt, je nachdem, wie viele Lagen Zeitung darum gewickelt waren. Sie presste die Hände auf die Ohren, summte halblaut. Aber die Gedanken ließen sich nicht verscheuchen. Schutzgeld. Davon hatte Westermann am Telefon ja wohl gesprochen. Und der Tote hatte wahrscheinlich nicht gezahlt. Aber die Frau hatte bezahlt, und wenn sie zusammengehörten, wieso schien sie dann so teilnahmslos? Henry summte lauter. Vielleicht war er auch ein Dealer, der versucht hatte zu betrügen, ein Süchtiger, ein Dieb? Ein ungeliebter Ehemann, und die Frau hatte ihn von Westermann be seitigen lassen?
Die Furcht, zu viel gesehen zu haben, jagte in heißen Schüben durch ihren Körper. Trotzdem fröstelte sie wieder. Sie verkroch sich tief in ihrer Jacke und hielt die Augen auch weiter geschlossen, als die Leiche verladen wurde und nacheinander Westermann, Lolek und Bolek zustiegen.
* * *
Er hasste es, eingesperrt zu sein. Die grauen Wände drückten ihm langsam, aber sicher die Luft ab. Kein Fenster, durch das er wenigstens die Tageszeit hätte erahnen können. Die Neonröhre über dem Waschbecken brachte gnadenlos
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