Die Würde der Toten (German Edition)
noch etwas. Es ist ein wunderbares, großes und korruptes Land, das von der Improvisation lebt. Überzählige Leichen vergraben sie einfach im Wald oder werfen sie ins Meer. In unserem kleinen Deutschland müssen wir uns da schon mehr Mühe geben. Perfektion ist gefragt, Präzision, deutsche Gründlichkeit. Tugenden, auf die auch Sie sich besinnen sollten. Jetzt.«
Henrys Blick wanderte zur Decke, fixierte das Lüftungsgitter der Klimaanlage, die nie eingebaut worden war. »Ich nehme meinen Beruf sehr ernst, Herr Westermann.« Sie sprach ein wenig zu laut, betonte jedes Wort. »Was ich hier mache, spielt sich irgend wo zwischen Kunst und Kult ab.« Nun richtete sie die Augen direkt auf ihn. »Wie eine Gesellschaft mit ihren Toten umgeht, sagt viel über ihr Verhältnis zu den Lebenden aus. Ich bin weit davon entfernt, in mir einen edlen Verfechter der Rechte der Toten zu sehen, aber Sie …«
»… ich scheiße auf die Gesellschaft!«
»… aber Sie, Sie treten jede Würde mit Füßen. Die der Toten und die der Lebenden!«
»Sie machen sich lächerlich. Es gibt nichts Würdeloseres als schwache Menschen. Die verdienen keinen Respekt. Egal ob tot oder lebend. Aber dies ist nicht der Augenblick für Grundsatzdiskussionen.«
»Wo haben Sie eigentlich dauernd diese Leichen her?« Henry biss sich auf die Lippen. Solche Fragen sollte man nicht stellen. Nicht einem Typen wie Westermann. Aber ehe sie es verhindern konnte, schoss die nächste Bemerkung aus ihr heraus. »Ist das Ihr Kerngeschäft? Beseitigung unliebsamer Zeitgenossen. Oder entsorgen Sie nur, was andere übrig haben? Und wieso ich? Wieso, verdammt noch mal, ich? Ich will das nicht! Was haben Sie denn bis letzte Woche mit Ihren Toten gemacht?«
»Sie sind zu neugierig, Frau Körner. Und stellen dabei auch noch dumme Fragen.« Er verzog das Gesicht und äffte sie nach: »Wieso ich? Wieso ich? Sie wissen es ganz genau! Jürgen Moos bacher ist ein dämlicher Junkie, ein Zocker, ein Vollidiot. Sein alter Vater ist nicht ganz so verblödet und hat um einen Deal gebeten. Man stelle sich vor: Er hat mich darum gebeten, seine Seele ver kaufen zu dürfen – und die Ihre gleich mit. Wobei Sie ihm zugute halten sollten, dass ihm die Tragweite seines Besuches bei mir nicht bewusst war, zumal er nicht wirklich, sagen wir, aus freien Stücken gekommen war. Aber ich habe die genialen Möglichkeiten sofort gesehen! Eine neue Dienstleistungssparte, Vermitt lungsgeschäfte in der Bestattungsbranche. Ganz legal, denn gestor ben wird ja bekanntlich immer, und ein paar hübsche Geschäfte noch obendrauf, die sich außerhalb der Legalität bewegen. So wie unser zweiter Mann beim Krematoriumsausflug oder Ihr heutiger Auftrag. Der alte Moosbacher hat eine ganze Weile gebraucht, bis er kapiert hat. Aber da war es zu spät. Ein Deal ist ein Deal unter Ehrenmännern.«
»Ehrenmänner?«
Henrys ungläubiger Ausruf blieb unkommentiert. Nur Wester manns Gesichtausdruck verhärtete sich, und sein Ton wurde eine Nuance schärfer.
»Papa kann aber nicht alles regeln. Für einen Teil seiner Schuld muss Jürgen selbst geradestehen. Einen Kredit nicht zurückzahlen zu können, ist eins – aber mich betrügen zu wollen, ist etwas ganz anderes.«
Er packte Henry unvermittelt am Hals, drückte ihr Kinn nach oben und zwang sie, ihn anzusehen. »Ehe Sie auf dumme Gedanken kommen: Sie sollten das ebenfalls nicht versuchen.«
Unsanft stieß er sie ein Stück von sich. Henry unterdrückte den Impuls, auf ihn loszugehen, und konzentrierte sich stattdessen auf die notwendigen Fakten, wobei sie wieder das Lüftungsgitter ins Visier nahm. Es übte in gewisser Weise eine beruhigende Wirkung auf sie aus. Beinahe hätte sie gelächelt.
»Eine Wasserleiche ist eine Leiche, die im Wasser gefunden wird, respektive lange im Wasser gelegen hat. Das ist nicht gleichbedeutend mit der Todesursache. Tod durch Ertrinken hat ganz spezifische Merkmale!«
»Wunderbar, Frau Körner. Eins mit Sternchen, setzen. Dann machen Sie mal!«
»Wenn jemand zu ertrinken droht, wird er zunächst die Luft anhalten. Irgendwann setzt aber der Atemreflex wieder ein, ob man will oder nicht. Das bedeutet, man atmet Wasser ein, und dieses Wasser findet der Gerichtsmediziner später!«
»Wo ist das Problem?«
»Man müsste …«
»Falsch«, unterbrach er sie. »Der Satz beginnt mit: Sie und endet auf müssen .«
Seine Arroganz brachte sie zum Schwitzen; stotternd nahm sie den Gedanken wieder auf. »Sie … ich muss also
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