Die Wundärztin
Kein Zweifel: Vor ihr lag ein Kamerad aus fast vergessenen Kindertagen. Sie selbst hatte ihm die Narbe beschert, hatte ihm beim Spielen den Stock ins Kinn gerammt. Das war die erste größere Wunde, die sie Meister Johann hatte versorgen helfen. Ihr schlechtes Gewissen hatte sie dazu gebracht, den Ekel zu überwinden und wiedergutzumachen, was sie angerichtet hatte. Von diesem Tag an hatte sie Wundärztin werden wollen.
Ausgerechnet dieser liebenswerte Junge lag vor ihr, ihr erster Patient und zugleich einziges Opfer. Nie mehr hatte sie seither jemandem Schaden zugefügt. Ihr Herz raste. Sie konnte den Blick nicht mehr abwenden. Anklagend schob sich die Miene des falschen Toten dazwischen, der seit gestern in Seumes Zelt auf Erics Platz lag. Auch er ein viel zu junger Bursche, voller Träume und Pläne, am Ende aller Hoffnungen sogar um die eigene Geschichte gebracht, weil er im Tod für einen anderen gehalten werden sollte.
»Franz?« Mehrmals rief sie leise den Namen. Fahrig rollte der Mann auf dem Tisch die Pupillen und stöhnte. Eine Träne löste sich aus seinem linken Auge. Am liebsten hätte sie mit ihm geweint. Dass es derart übel hatte kommen müssen!
Vor Magdalena zogen die Aufregungen der letzten Stunden vorbei: Wrangel und seine Truppen waren am frühen Morgen eingetroffen. Der gestrige Überfall dagegen hatte sich als Akt erstaunlich gut ausgerüsteter Marodeure entpuppt und mehr Kräfte beansprucht, als für die Sicherheit des Lagers gut gewesen war. Zu viele der kaiserlichen Musketiere hatten bereits dabei ihr trockenes Pulver verschossen und so den Schweden an diesem Morgen nichts Wirksames entgegensetzen können. Ohnehin dauerte es des überfluteten Bodens wegen länger als üblich, bis sich die Fähnlein im Osten sammelten. Derweil hatten Wrangels Truppen den Vorteil nutzen und ihre schweren Geschütze in Stellung bringen können. Auch ihre Einheiten mit Tausenden von Kürassieren und Pikenieren waren bereits aufmarschiert.
Kaum hatten sich die Kaiserlichen formiert, war das Scharmützel losgebrochen. Die vom Regen weitgehend zerstörten Schanzen hielten die Feinde nicht lange ab. Den Schweden wurde zwar auch schnell das Schießpulver feucht, umso unerbittlicher aber bedienten sie sich ihrer Lanzen und Schwerter und suchten die direkte Konfrontation Mann gegen Mann. Doch auch die kaiserlichen Truppen wussten, was Mut hieß, und zeigten sich im Gebrauch ihrer Waffen wenig zimperlich. Innerhalb kürzester Zeit kam es auf beiden Seiten zu hohen Verlusten. Karren voller Verwundeter landeten in den Lazarettzelten am Schlachtfeldrand. Den Wundärzten blieb kaum Zeit zum Luftholen. In dieser Situation fehlte Rupprecht als Gehilfe besonders schmerzlich. Schon fragte sich Magdalena, ob es richtig war, dass er gerade jetzt Erics riskante Flucht aus dem Lager organisierte. Was, wenn alles schiefging, weil die Steckenknechte den Schwindel mit dem falschen Toten zu früh entdeckten?
Magdalena wagte nicht, Franz länger anzuschauen. Auf ihr Rufen reagierte er nicht. Besorgt äugte sie zu Meister Johann, der sich wieder einmal nicht schonte, um seiner Aufgabe bei den Verwundeten gerecht zu werden. Gerade wischte er sich über die Stirn und besah sich das Bein ihres Kameraden aus Kinderzeiten, das er unterhalb des Knies abzusägen gedachte. Der Einschuss war mitten in die Wade erfolgt.
»Ist dir nicht gut?«, fragte sie und machte Anstalten, ihm die Säge aus der Hand zu nehmen.
»Wie soll es einem gutgehen bei dem ganzen Schlamassel?« Unwirsch schüttelte er sie ab. Die Säge aber setzte er immer noch nicht an. »Ich denke, dem hier können wir das Bein retten. Der Schusskanal ist gerade, die Wundränder sind nicht allzu zerfetzt.« Er legte die Säge beiseite, um aus dem bereitliegenden Besteck das Nötige herauszusuchen. »Stell die Laterne weg, Magdalena, und hilf mir hier. Mehr Licht ist nicht so wichtig wie rasches Abbinden. Der Bursche hat schon viel zu viel Blut verloren.«
Gemeinsam schlangen sie das Leinen fest um den Oberschenkel. Endlich ließ der Blutfluss nach. Meister Johann griff nach der Fasszange und versuchte, die Kugel aus der Wunde zu ziehen. Unterdessen presste Magdalena Franz einen mit Mohnextrakt, Alraune und Bilsenkraut getränkten Schwamm auf Mund und Nase. Mitleidig strich sie ihm über das Haar. Für eine Weile schenkten die Kräuter ihm Ruhe, so dass er kaum zuckte, während der Feldscher die Wunde nähte. Erschöpft schweifte Magdalenas Blick ab. Vom Nachbartisch wurde ein
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