Die Wundärztin
ragte ein schmaler, weißer Stamm einsam in den grauen Herbsthimmel empor.
»Ich habe mich wohl geirrt. Es kann ja gar nicht sein, dass das noch hier liegt. Nach all den Jahren! Komm, lass uns endlich zu Englund gehen, damit wir fortkommen von hier und endlich mein Kind wiederfinden.«
23
Je näher sie Rothenburg kamen, desto ungeduldiger rutschte Englund im Sattel hin und her. Magdalena wagte jedoch nicht, etwas zu sagen. Seine Unruhe verstand sie nur zu gut. Auch sie war davon überzeugt, kurz vor dem Ziel zu stehen. Ludwigs Erzählung ließ keinen Zweifel, dass es sich bei dem rotblonden Mann in Rothenburg um Eric handeln musste. Offensichtlich durchkämmte er die Gegend auf der Suche nach ihr. Und wo Eric war, das spürte sie, musste auch Carlotta sein. Für sie war es undenkbar, dass er ihr Kind, seine eigene Tochter, im Stich gelassen hatte. Nur um sie zu finden, wollte sie zu Eric.
Bei Anbruch der Dämmerung hofften sie, in der Stadt ob der Tauber einzutreffen. Noch an diesem Abend also würde sie die Kleine endlich wieder in die Arme schließen. Zum tausendsten Mal glitten ihre Finger suchend über ihre Brust, um den Bernstein zu fassen. Sie brachte es nicht über sich, von dieser Gewohnheit zu lassen. Dabei hatte sich längst gezeigt, dass sich auch ohne den Schutz des Steines alles zum Guten wendete. Vorsichtig linste sie zur Seite. Kerzengerade saß Rupprecht im Sattel. Als spürte er ihren Blick, wandte er leicht den Kopf und blinzelte ihr beruhigend zu. Den Bernstein brauchte sie nicht mehr. Englund würde ihr das Stück ohnehin nicht mehr zurückgeben, nicht einmal Carlotta zuliebe.
Tief atmete sie durch, rief sich Carlottas zartes Gesichtchen ins Gedächtnis, roch den Duft ihrer Haut, meinte die Weichheit ihrer rotblonden Locken auf den Wangen zu spüren. Kaum ein ganzer Tag mehr, und sie waren wieder vereint! Beglückt sandte sie gleich ein halbes Dutzend Dankgebete gen Himmel. Die Regenwolken hatten sich aufgelöst, dennoch wölbte sich der Himmel weiterhin trüb und dunkel über ihnen. Wenigstens mussten sie sich dieses Mal nur gegen den eisigen Wind wappnen und nicht noch die stete Feuchtigkeit der ersten Reise vor wenigen Wochen ertragen.
Magdalena rückte das Säckchen zurecht, das sie am Gürtel trug. Darin hatte sie einige Kräuter und Röhrchen mit Tinkturen gesteckt, die Ludwig ihr überlassen hatte. Eine wirksame Medizin gegen Erkältung fand sich darunter natürlich auch. Rupprecht hatte ebenfalls einen schweren Beutel mit zahlreichen Arzneien gepackt. Ihre Geschichte, warum sie heimlich den Umweg über Königsberg in Franken hatten einschlagen und die Männer um Lindström hatten warten lassen müssen, würde man ihnen glauben müssen. Selbst Englund war sofort überzeugt gewesen.
Wie gut, dass Rupprecht bei ihr war! Er hatte sich wahrlich als besserer Talisman entpuppt als der Bernstein. Mit ihm an der Seite wurde alles gut. Carlotta streckte bald schon ihre Ärmchen nach ihr aus, das allein zählte. Am liebsten hätte sie dem Pferd selbst die Sporen gegeben. Noch war Englund allerdings nicht bereit, die Zügel aus der Hand zu geben.
Ihr Vorhaben, lediglich zu dritt und ohne bewaffnete Begleitung nach Rothenburg zu reiten, war gewagt. Hinter jeder Wegbiegung konnte das Unglück lauern. Die Gegend zwischen Main und Tauber war unübersichtlich, und der Steigerwald im Osten lockte viele Schurken an. Selbst ihr Königsberger Gastgeber, der sonst so wortkarge Stadthauptmann, hatte ihnen anlässlich ihres überstürzten Aufbruchs erstaunlich beredt das ganze Ausmaß der drohenden Gefahren vor Augen geführt. »Keine Woche mehr, und die Kaufleute stehen wieder in der Tür«, brachte er als letzten und wichtigsten Grund an. »Unter deren Schutz seid ihr doch schon von Kitzingen bis hierher geritten. Du kennst sie, Englund, vertraust ihnen wie deinen eigenen Leuten. Sei nicht töricht und warte lieber noch auf sie, statt heute schon davonzueilen.« Als der Hauptmann an seinem Vorhaben festhielt, fügte er noch hinzu: »Die haben wenigstens eine Handvoll schwerbewaffneter Schützen dabei. Mit denen wäre euer Weg bis Würzburg gesichert.«
Rupprecht und Magdalena befürchteten schon, der Hauptmann könnte einlenken, als der erstaunlich schroff reagierte: »Bis nächste Woche können wir nicht warten. Pistolen trage ich selbst bei mir, und zu viert werden wir uns schon zu verteidigen wissen. Außerdem haben wir schnelle Pferde. Ich kenne den Weg wie meine eigene Westentasche. Nichts wird
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