Die wunderbare Welt der Rosie Duncan
Verzweiflung den Bauch. Als ich mich aus meinem herrlich bequemen Sofa hochmühte, griff mein Bruder nach meiner Hand und schaute
mich mit inniger Zuneigung an. »Es ist wirklich schön, hier zu sein. Danke, Rosie.«
Aus Erfahrung weiß ich, dass die sentimentalen Gefühlsausbrüche meines Bruders mit Vorsicht zu genießen sind. Meist sind sie erste Anzeichen dafür, dass James in ernsthaften Schwierigkeiten steckt und meine Hilfe braucht. Später, als er auf meinem Sofa schnarchte und ich schlaflos in meinem Bett lag, fragte ich mich besorgt, ob es auch diesmal wieder so wäre. Doch schon trat mein Optimismus-Gen in Aktion, und ich kam zu dem Schluss, dass mein Bauchgefühl diesmal sicher falschlag. Okay, er war ein unverbesserlicher Egoist, aber sogar James konnte doch mal aufrichtige, ehrliche, innige Gefühle – ganz ohne Hintergedanken – zeigen.
Natürlich konnte er das. Oder?
8
»Hast du heute Abend schon was vor?«, fragte mich James am nächsten Morgen, als wir beim Frühstück saßen.
Ich dachte kurz nach. »Nein. Warum?«
»Weil ich meiner lieben kleinen Schwester gern etwas Gutes tun würde.«
Oh je. Er musste wirklich in Schwierigkeiten stecken. »Was genau meinst du mit ›etwas Gutes‹?«
James blinzelte irritiert. »Ach, Rosie, du bist immer so misstrauisch. Zieh dir einfach was Hübsches an und freu dich – ich habe uns was wirklich Nobles reserviert. Und ich zahle.«
»Warum fragst du mich dann erst, ob ich schon was vorhabe, wenn du sowieso schon reserviert hast?«, entgegnete ich gereizt.
James gab sich geschlagen. »Okay, ich geb’s zu, ich habe in deinen Kalender geschaut, als du gestern Abend den Tee gemacht hast. Und als du das Eis geholt hast, habe ich den Tisch reserviert.«
»Ah ja, verstehe.« Die Erklärung sollte genügen. Fürs Erste.
Hörst du mir vielleicht mal zu?, schrie meine innere Stimme, dass es mir in den Ohren dröhnte. Er steckt bis
zum Hals in Schwierigkeiten und wird dich da mit reinziehen. Mal wieder. Das kannst du gerade überhaupt nicht gebrauchen! Ich holte tief Luft und schubste das nervige Stimmchen in die hinterste Ecke meines Bewusstseins.
»Alles okay?«, fragte James, als er meine Miene sah.
Ich lächelte. »Alles bestens.«
Vor dem Laden wartete Marnie schon auf mich. Sie hockte auf der Fensterbank und sah aus, als hätte sie eben eine Million verloren und dafür einen Fünfer gefunden. Trotz ihres turbulenten Liebeslebens kam es extrem selten vor, dass sie so am Boden zerstört aussah.
»Hi, Marnie. Wie geht’s?«
Als das Metallgitter hochfuhr, raffte sie sich auf, und wir gingen hinein. »Gut.«
»Sieht aber nicht so aus«, bemerkte ich, machte das Licht an und zog meine Jacke aus. Marnie folgte mir wortlos in die Werkstatt und hängte ihre Jacke neben meine. »Willst du darüber reden?«, fragte ich.
Ihr kamen Tränen, und sie blinzelte hastig. »Gern. Aber ich weiß nicht, ob du mir helfen kannst.«
»Versuchen kann ich es ja«, meinte ich lächelnd. »Warum machst du es dir nicht auf dem Sofa gemütlich? Ich werfe schon mal Old Faithful an. Und …«, ich zauberte eine noch warme Tüte von M&H Bakers aus meiner Tasche hervor, »… ich konnte heute Morgen Luigis legendären Schoko-Cookies nicht widerstehen.«
Marnies Miene hellte sich etwas auf, und sie fiel mir um den Hals. »Danke, Rosie. Du bist wirklich wunderbar.«
Nachdem Old Faithful uns eine Kanne dampfenden Kaffee gebraut hatte, gesellte ich mich zu Marnie auf das abgewetzte braune Ledersofa am Fenster. Wie Old Faithful gehört es zum Inventar und war – wie mir nun bewusstwurde,
als ich mich in das durchgesessene Polster sinken ließ – eine weitere Geheimwaffe in unserem Wettstreit mit Philippe. Es ist fast schon eine Frage des Anstands , seinen Kunden inmitten der Blumenfülle ein stilles, gemütliches Eckchen zu reservieren, wo sie sich in aller Ruhe mit einer Tasse von Old Faithfuls Bestem stärken können. Bald nachdem ich den Laden von Mr Kowalski übernommen hatte, hatten Ed und ich das Sofa in einem Café abgestaubt, das leider schließen musste (was wir sehr bedauert hatten), und ich erinnere mich noch lebhaft daran, wie wir Leib und Leben riskiert hatten, als Ed den Verkehr auf der West 68th Street aufzuhalten versuchte, während ich das schon recht betagte Sofa über die Straße schob. Marnie schien von seinem Wohlfühlfaktor zumindest schon halbwegs getröstet, als ich mich zu ihr setzte.
»Okay, Rosie, ich mache es kurz«, begann sie und knabberte an
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