Die Zaehmung
wäre ich zweifellos dort gewesen. Ich hätte diesen Peregrine getötet, wie er meine Brüder getötet hat.«
»Wie Ihr seine Brüder getötet habt«, Lianas Worte verloren viel von ihrer Kraft, da sie zu schwach dazu war, ihren Kopf zu heben. Doch selbst in ihrer schlechten körperlichen Verfassung wollte sie Rogans Leben retten. »Ob Ihr mich freilaßt oder tötet, macht für ihn keinen Unterschied«, sagte sie. »Aber tut es bald. Er wird eine neue Erbin als Gattin brauchen.« Wenn es bald geschieht, überlegte sie, wird Rogan keine Zeit mehr für einen Angriff bleiben.
»Ich werde erst einmal abwarten, wie wenig oder viel ihm an Euch gelegen ist«, sagte Oliver und gab einem seiner Männer einen Wink.
Liana sah eine Schere im Kerzenlicht blinken. »Nein!« keuchte sie und versuchte, der Schere auszuweichen; aber die Hände der Männer, die sie packten, waren zu kräftig für sie. Fieberheiße Tränen rollten ihr über die Wange, als man ihr die Haare abschnitt, so daß sie ihr nur noch bis zu den Schultern reichten. »Das war meine einzige Schönheit«, flüsterte sie.
Weder Oliver noch seine beiden Begleiter nahmen noch einmal Notiz von ihr, als sie aus dem Zimmer gingen. Oliver trug die Haarpracht, deren er sie beraubt hatte.
Lianas Tränen flossen lange, wobei sie nicht einmal versuchte, die ihr noch verbliebenen Haare zu berühren. »Jetzt wird er mich nie mehr lieben«, klagte sie immer wieder.
Gegen Morgen fiel sie in einen unruhigen Schlummer, und als sie wieder erwachte, war sie zu schwach, aus dem Bett zu steigen und sich Wasser zu besorgen. So schlief sie wieder ein.
Diesmal erwachte sie von der Berührung eines kalten Tuches, das ihr auf die Stirn gepreßt wurde.
»Liegt still«, befahl ihr eine weiche Stimme.
Liana öffnete die Augen und sah eine Frau mit graumelierten braunen Haaren und Augen, die sie so sanft anblickten wie die eines Rehs. »Wer seid Ihr?«
Die Frau tauchte das Tuch wieder in Wasser ein und wischte dann Liana den Schweiß vom Gesicht.
»Hier, nehmt das.« Sie hielt einen Löffel an Lianas Lippen und stützte dann ihren Kopf, damit sie trinken konnte. »Ich bin Jeanne Howard.«
»Ihr!« sagte Liana, sich an der Kräutermedizin verschluckend. »Geht weg von mir. Ihr seid eine Verräterin, eine Lügnerin, ein Dämon aus der Hölle.«
Die Frau sagte mit einem schwachen Lächeln: »Und Ihr seid eine Peregrine. Würdet Ihr etwas Brühe hinunterschlucken können?«
»Nicht, wenn Ihr sie mir einflößt.«
Jeanne betrachtete Liana nachdenklich. »Ich kann mir gut vorstellen, daß Ihr zu Rogan paßt. Habt Ihr tatsächlich sein Bett in Brand gesteckt? Und Euch mit einem Schleier aus Münzen an seinen Tisch gesetzt? Wart Ihr wirklich zusammen mit ihm in einem Zimmer eingesperrt?«
»Wie könnt Ihr von all diesen Dingen wissen?«
Mit einem Seufzer erhob sich Jeanne vom Bett und ging zu einem Tisch, auf dem ein kleiner eiserner Topf stand. »Wißt Ihr denn nicht, wie tief der Haß sitzt zwischen den Howards und den Peregrines? Sie erfahren alles voneinander, was man überhaupt wissen kann.«
Trotz ihres Fiebers und ihrer körperlichen Schwäche versuchte Liana, Jeanne zu studieren. Das war also die Frau, die so viel Ärger verursacht hatte. Das war eine gewöhnlich aussehende Frau von mittlerer Größe, mit ganz gewöhnlichen braunen Haaren . . .
Haare! durchzuckte es Liana, und sie legte die Hand auf ihren Kopf. Und dann konnte sie, obwohl sie sich noch so sehr dagegen sträubte, die Tränen nicht mehr zurückhalten.
Jeanne kam mit einer Tasse zu ihr zurück und blickte
sie mitleidig an, als Liana die Enden ihrer abgeschnittenen Haare in den Händen hielt. Dann veränderte sich ihr Gesichtsausdruck wieder, während sie sich einen Stuhl an das Bett heranholte. »Hier, eßt das. Ihr braucht unbedingt etwas Nahrung. Euer Haar wird wieder nachwachsen, und es gibt schlimmere Dinge im Leben.«
Liana konnte nicht aufhören zu weinen. »Meine Haare waren das einzige, was schön an mir war. Rogan wird mich jetzt nie mehr lieben.«
»Euch lieben», sagte Jeanne im verdrossenen Ton. »Oliver wird ihn vermutlich töten, und so spielt es doch keine Rolle mehr, ob Rogan eine Frau liebt oder nicht.«
Liana brachte noch so viel Kraft auf, Jeanne die Tasse aus der Hand zu schlagen. »Geht fort! Ihr habt all dieses Unglück heraufbeschworen. Hättet Ihr Rogan nicht verraten, wäre er jetzt nicht der Mensch, der er ist.«
Jeanne bückte sich zu der Tasse, die über den Boden gerollt
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