Die Zaehmung
Werdet Ihr euch von dem Peregrine scheiden lassen und eine Howard werden wie Rogans erste Frau?«
Sie gab sich keine Mühe, ihm zu antworten, was den Mann zu amüsieren schien.
»Es wird keine Rolle spielen, was Ihr tut oder nicht tut«, sagte der Mann lachend. »Lord Oliver wird Euren
Mann glauben machen, daß Ihr zu einer Howard geworden seid. Wir werden am Ende gewinnen.«
Liana redete sich ein, daß Rogan niemals glauben würde, daß sie eine Howard geworden war; aber tief in ihrem Inneren hatte sie Angst.
Sie ritten zwei läge lang. Wenn sie nachts Rast machten, wurde Liana im Sitzen an einen Baum gefesselt, und die Männer lösten sich als Wachen bei ihr ab.
»Vielleicht solltet Ihr besser gleich zwei Männer zu meiner Bewachung abstellen«, meinte Liana höhnisch, als Oliver Howard die Stricke prüfte. »Ich bin so stark und mächtig, daß ich Eure Leute vermutlich alle niedermache, wenn ich meine Fesseln sprenge.«
Oliver lächelte nicht. »Ihr seid eine Peregrine, und die sind eine tückische Sippschaft. Möglich, daß der Teufel mit Euch im Bunde ist, der Euch zur Flucht verhilft.« Er drehte ihr den Rücken zu und ging in eines der kleinen Zelte, die unter den Bäumen errichtet waren.
In der Nacht begann es zu regnen. Die Männer, die sie bewachten, wechselten sich so oft ab, daß keiner länger als eine Stunde dem Regen ausgesetzt war. Doch sie dachten nicht daran, Liana loszubinden und in einem der Zelte unterzubringen, wo es warm und trocken war.
Am Morgen war sie triefend naß, halb erfroren und erschöpft. Der Mann, der sie auf seinem Pferd vor sich sitzen hatte, betastete sie diesmal nicht ständig, wie er das tags zuvor gemacht hatte. Er ließ sie in Ruhe, und Liana spürte, wie ihre ermüdeten Muskeln nachgaben. Sie fiel schlafend gegen ihn und wachte erst wieder kurz vor Sonnenuntergang auf, als sie an dem Ort anlangten, den Rogan als den Besitz der Peregrines zu bezeichnen pflegte.
Sie konnten die Türme schon sehen, als sie noch eine Meile davon entfernt waren, und als sie näher kamen, erwachte Liana aus ihrer Teilnahmslosigkeit. Noch nie hatte sie etwas diesen Gebäuden Vergleichbares gesehen, die nun vor ihr aufragten. Es gab keine Worte, mit denen sie die Größe dieses Besitzes hätte beschreiben können: riesig, gewaltig, enorm —- nicht eines dieser Attribute hätte auch nur annähernd der Wirklichkeit entsprochen. Da war eine Serie von sechs »kleinen« Türmen, die den äußern Wall und den Tunnel bewachten, der zum Tor in dem inneren Mauerwall der Burg führte. Jeder dieser Türme war größer als der Burgturm von Moray Castle.
Hinter dem inneren Burgwall befanden sich dann Türme von solcher Mächtigkeit, daß Liana sie nur mit offenem Mund anstarren konnte. Sie konnte dahinter noch eine Mauer erkennen und mit Schiefer gedeckte Häuser.
Sie gelangten zuerst zu einer Holzbrücke über einem Burggraben, der so breit war wie ein Fluß. In Kriegszeiten konnte diese Brücke ohne große Schwierigkeit niedergerissen werden. Dann ritten sie über eine steinerne Brücke, an die sich wieder eine Holzbrücke anschloß, ehe sie in den Tunnel gelangten. Über ihnen befanden sich Mordlöcher, durch die man in Kriegszeiten den Feind mit siedendem Öl begoß.
Dann ritten sie wieder hinaus in das verblassende Licht des Tages, überquerten abermals eine Holzbrücke über einem zweiten Burggraben und erreichten nun endlich das Innere Tor, das von zwei hohen, aus Felsquadern gefügten Türmen flankiert war. Wieder ritten sie unter Mordlöchern hindurch und den Eisenspitzen von Fallgattern.
Dahinter breitete sich ein mit Gras bewachsenes Areal aus mit vielen aus Fachwerk errichteten Häusern, die sich an die Mauern anlehnten. Dieser weite Platz war sauber und zeugte von Wohlhabenheit.
Sie ritten noch immer weiter und passierten abermals einen Tunnel, der wiederum von zwei Türen flankiert war, die größer waren als jeder Turm in einem der zahlreichen
Burgen, die Lianas Vater gehörten. An dessen Ende gelangten sie auf einen unglaublich weitläufigen schönen Burghof. Hier sah sie aus Steinen errichtete Gebäude mit in Blei gefaßten Glasfenstern: eine Kapelle, einen Söller, eine große Halle und Vorratshäuser, wo Leute geschäftig aus- und eingingen mit Lebensmitteln oder Fässer vor sich herrollten.
Liana saß auf dem Pferd und starrte um sich. Niemals, selbst in ihren kühnsten Gedanken nicht, hätte sie sich eine Burg von dieser Größe und von solchem Reichtum unter dem »Besitz
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