Die Zahl
Gjöll, bei den Griechen beziehungsweise den Römern wurde er Acheron oder Styx genannt.«
Capelli überlegte. »Wenn dieser Brief genauso aufgebaut ist, wie der letzte, dann ist die erste Zeile wieder die Ankündigung eines bevorstehenden Todes ...«
»... und gibt noch keinen Hinweis darauf, wie oder wo das nächste Opfer ums Leben kommen wird«, vervollständigte Morell den Satz.
»Verdammt, wir müssen schnell sein! Ich will mir gar nicht vorstellen, welche Ängste der oder die Entführte gerade durchmachen muss.« Capelli stiegen Tränen in die Augen. Sie konnte sehr gut mit Leichen umgehen, aber die Vorstellung, dass gerade ein lebender Mensch Todesängste ausstehen musste und sein Leben einzig und allein von einem dummen Rätsel abhing, war zu viel für sie. »Ich glaube, wir könnten Hilfe gebrauchen«, fügte sie hinzu.
»Ja«, stimmte Lorentz ihr bei. »Für das letzte Rätsel haben wir viel zu lange gebraucht.«
»Ich weiß«, stöhnte Morell, »aber ich habe keinen blassen Schimmer, wo ich in so kurzer Zeit kompetente Hilfe anfordern soll. Mal ganz abgesehen davon, dass wir nicht wissen, ob wir einen Historiker, Biologen oder Sprachwissenschaftler brauchen. Uns rennt einfach die Zeit davon.«
»Dann hören wir jetzt auf zu reden und fangen an zu handeln«, sagte Capelli entschlossen. Der Gedanke an das wehrlose Opfer, dessen Leben allein von ihrer Denkfähigkeit abhing, machte sie fast wahnsinnig. »Wolf – Rot – Märchen. Was fällt euch dazu ein?«
»Rotkäppchen«, sagte Lorentz. »Das ist ein Märchen und darin kommt ein böser Wolf vor.«
»Zu offensichtlich«, sagte Capelli. »Denk weiter!«
»Ich kann mich nicht konzentrieren. Außerdem müssen wir ins Internet, sonst wird das nichts.«
»Gut«, sagte Morell. »Ihr fahrt den Computer hoch, und ich mach mir ganz schnell was zu essen. Ich kann mit leerem Magen nämlich nicht gut nachdenken.« Er ging in die Revierküche und schmierte sich ein Marmeladenbrot.
Wer war denn überhaupt entführt worden? Sie hatten bisher noch keine Vermisstenmeldung bekommen. Vielleicht gab es diesmal gar kein Opfer und der Brief war nur ein Scherz? Ein fieser
Streich, genauso wie die Klopapiersache und der Anruf bei Agnes Schubert heute Morgen. Morell biss herzhaft ins Brot und spürte mit jedem Happen, wie seine Lebensgeister langsam wieder geweckt wurden. Kauend ging er ins Vorzimmer und setzte sich zu Bender, der gerade ein Telefonat beendete.
»Wir haben soeben eine Vermisstenmeldung reinbekommen«, sagte Bender aufgeregt.
Morell atmete tief durch und lehnte sich zurück. »Wer?«, fragte er.
»Lars Zieher hat seine Frau Maria als vermisst gemeldet. Als er gestern Abend nach Hause kam, war sie nicht da, und über Nacht ist sie auch nicht wieder aufgetaucht.«
»Dieser Idiot!«, schimpfte Morell. »Warum kommt er denn erst jetzt auf die Idee, eine Meldung zu machen?« Es war also höchstwahrscheinlich Maria Zieher, die das nächste Opfer werden sollte.
»Lars dachte, dass Marias Verschwinden sicherlich nichts mit dem Killer zu tun hat – weil doch die beiden letzten Opfer Männer waren. Von den Opfern davor wusste er ja nichts.«
Morell holte tief Luft und legte die Stirn auf die Tischplatte. »Verdammt! Verdammt! Verdammt!«, murmelte er.
»Hier, Chef.« Bender hielt Morell eine Schachtel Kekse hin. »Sie sollten etwas essen, und wenn Sie wollen, dann mache ich Ihnen einen Tee.«
»Danke, Robert«, sagte Morell und nahm die Kekse entgegen.
Während Bender in der Küche herumwerkelte, griff Morell zum Hörer und rief bei Haug in Innsbruck an. Haug hob schon nach dem zweiten Klingelton ab.
»Grüß dich, Ralph, hier spricht Otto. Bei mir hat sich was getan. Ich werde dir per Helikopter einige Proben und einen weiteren Brief zukommen lassen. Bitte ordne diesen Dingen oberste Priorität zu!«
»Ist in Ordnung«, sagte Haug. »Und wie sieht es sonst so mit deinem Fall aus?«
In aller Kürze brachte Morell seinen Freund auf den neuesten Stand. Haug bot ihm darauf an, dass sich einige Experten dem Thema Zwölf und dem neuen Rätsel annehmen und ein Täterprofil erstellen würden, mehr könne er aber im Moment wirklich nicht für Morell tun.
Als Morell das Gespräch beendet hatte, legte er die Hände auf den Kopf und schaute nachdenklich aus dem Fenster.
»Männer, Frauen und kleine Kinder zusammengerechnet, waren es
zwölf, die wir ins Wasser oder ins Feuer geworfen haben.«
Prosper Mérimée, Die Bartholomäusnacht
Das Wasser war eiskalt.
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