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Die Zahlen Der Toten

Die Zahlen Der Toten

Titel: Die Zahlen Der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linda Castillo
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jeder Knochen in ihrem Körper gebrochen.
    In dem Moment sehe ich Tomasetti im Flur stehen. Er beobachtet mich, doch aus seinem Gesichtsausdruck werde ich nicht schlau. Er tritt zur Seite, um das Paar vorbeizulassen. Ich stehe hinter meinem Schreibtisch, starre geradeaus, ohne etwas zu sehen. Zum ersten Mal in meinem Beruf als Polizistin fühle ich mich inkompetent. Ich bin schon öfter der Intoleranz begegnet, aber das ist es nicht, was wie Scherben in meinen Eingeweiden wütet.
Hätten Sie Ihre Arbeit getan, wäre meine Tochter vielleicht noch hier.
Diese Worte sind es, die mich fertigmachen. Ich schlage die Hände vors Gesicht und sinke auf meinen Stuhl. Tomasetti betritt das Büro, doch ich blicke nicht auf. Ich fühle mich so alt und gebrochen, wie Carol Johnston ausgesehen hat.
    Mit einem Seufzer lässt Tomasetti sich auf dem Stuhl nieder. »Hässliche Szene.«
    Ich bin so sehr in meinem eigenen Elend gefangen, dass ich nicht antworten kann.
    »Der Täter ist entkommen«, sagt er. »Er hat es zur Straße geschafft, dann haben wir ihn verloren.«
    Eine weitere Enttäuschung, die zu den hundert anderen hinzukommt. »Haben Sie irgendetwas Brauchbares gefunden?«
    »Glock und ein BCI -Spurensicherungsspezialist nehmen Abdrücke von Schuhen und den Kufen des Schneemobils. Es ist möglicherweise ein Yamaha, aber sicher kann man das erst nach einem Profilvergleich sagen.«
    Ich hebe den Kopf, und unsere Blicke treffen sich. »Ich stelle eine Liste der Leute hier in der Gegend mit einem Schneemobil der Marke Yamaha zusammen.« Doch in Gedanken bin ich noch immer bei den Johnstons. »Ist Doc Coblentz gekommen?«
    »Als ich gegangen bin, haben sie gerade die Leiche abtransportiert.«
    »Hat jemand Fotos gemacht?«
    »Ja, auch das.«
    Ich gebe mich wieder meinen düsteren Gedanken hin.
    Nach einer Weile sagt er: »Nehmen Sie sich seine Worte nicht so zu Herzen.«
    Mein Telefon klingelt, doch ich ignoriere es. »Warum nicht? Er hat recht.«
    Er sieht mich aus zusammengekniffenen Augen an. »Inwiefern?«
    »Ich hätte sofort Hilfe anfordern sollen.«
    »Warum haben Sie das nicht getan?«
    Es hört auf zu klingeln, sekundenlanges Schweigen. »Weil ich’s vermasselt habe.«
    »Warum haben Sie nicht um Unterstützung gebeten, Kate?«
    Ich starre das Protokollbuch auf meinem Schreibtisch an, doch ich sehe nur Brenda Johnstons zerstückelten Körper im Schnee, die Organe wie Abfall um sie herum verstreut.
    Er versucht es noch einmal. »Reden Sie mit mir.«
    Ich sehe Tomasetti an. »Ich kann nicht.«
    »Polizisten machen Fehler, Kate. Wir sind Menschen. Das passiert.«
    »Es war kein Fehler.«
    Meine Antwort verwirrt ihn, und wieder herrscht Schweigen zwischen uns. Wieder klingelt das Telefon, doch ich gehe nicht dran. In mir ist es leer, dunkel und kalt wie im Weltall. Es ist nichts mehr von mir übrig.
    »Ich bin der Letzte, der das Recht hat, einen Vortrag über Richtig und Falsch zu halten«, sagt er auf einmal.
    »Soll das so was wie ein Geständnis sein?«
    »Also, wenn es irgendetwas zu diesem Fall gibt, das Sie mir nicht gesagt haben, wäre jetzt ein guter Moment, es zu tun.«
    Die Versuchung, einfach alles rauszulassen, ist groß, aber ich kann es nicht. Ich traue ihm nicht. Ich traue nicht einmal mir selbst.
    Kurze Zeit später steht er seufzend auf. »Kann ich Sie nach Hause fahren, damit Sie ein wenig Schlaf kriegen?«
    Ich überlege, wann ich das letzte Mal geschlafen habe, doch es fällt mir nicht ein. Und was heute für ein Tag ist, auch nicht. Auf der Wanduhr ist es kurz vor sechs, und ich frage mich, wo der Tag geblieben ist. Doch ich muss weiterarbeiten, auch wenn die Erschöpfung schon mein Hirn vernebelt und ich in absehbarer Zeit völlig ineffizient sein werde. Aber wie soll ich mich schlafen legen, wo ich weiß, dass in meiner Stadt ein Mörder umgeht?
    »Ich habe meinen eigenen Wagen«, erwidere ich und stehe auf.
    »Sie sind nicht in der Verfassung zu fahren.«
    »Doch, das bin ich.« Erst in diesem Moment wird mir klar, dass ich nicht vorhabe, nach Hause zu gehen.

24. Kapitel
    Auf dem Weg zum Explorer lugt die untergehende Sonne hinter einer Wand aus granitgrauen Wolken hervor. Der Wind hat sich gelegt, doch wenn man dem Online-Wetterbericht glaubt, wird es heute Nacht heftig schneien. Kaum sitze ich hinterm Lenkrad, rufe ich Glock auf dem Handy an. Als er beim ersten Klingeln abnimmt, bin ich geradezu unmäßig erleichtert, seine Stimme zu hören. »Sagen Sie mir bitte, dass Sie wenigstens einen guten

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