Die Zahlen Der Toten
mitessen.«
Die Einladung überrascht mich, da ich ja unter
Bann
gestellt bin, trotzdem schüttele ich den Kopf. »Ich habe nur ein paar Minuten.« Ich blicke meine Schwester an, zwinge mich zu lächeln. »Ich wollte sehen, wie es dir geht. Wie du dich fühlst.«
Sie legt eine Hand auf ihren gewölbten Bauch, doch meinem Blick weicht sie aus. »Ich fühle mich gut«, sagt sie. »Besser als das letzte Mal.«
»Du siehst großartig aus.«
William lächelt. »Sie isst wie ein Pferd.«
»Schon als Kind hat sie uns die Haare vom Kopf gefressen.« Ich lächele, hoffe, es wirkt echt. »Das ist gut fürs Baby.«
»Aber schlecht für meine Taille!«, sagt sie etwas zu heiter.
Eine unbehagliche Stille tritt ein. Ich berühre ihre Schulter und sehe ihr in die Augen. »Arbeitest du noch an dem Baby-Quilt?«
»Ich bin fast fertig.«
»Darf ich ihn sehen?«
Meine Bitte überrascht sie, doch ihre Augen leuchten. »Natürlich.« Sie berührt meine Schulter und geht voran durchs Wohnzimmer. »Komm.«
Die Treppenstufen knarren auf dem Weg in den ersten Stock. Ich folge ihr ins Schlafzimmer, einen großen Raum mit Dachschrägen, zwei hohen Fenstern und schlichten, schweren Möbeln. Die Frisierkommode hat einmal unseren Eltern gehört. Eine Truhe mit Metallschließen und ein Schlittenbett mit einem von Sarahs Quilts darauf.
Sie geht zur Kommode und zündet eine Glaslampe an. Goldenes Licht wirft Schatten an Decke und Wände. »Du siehst müde aus, Katie.«
»Ich arbeite sehr viel.«
Sie nickt und holt einen fast fertigen Quilt aus der Schublade, dessen bogenförmige Flicken in Meerschaumgrün und Lila ein komplexes Muster bilden. Wie immer bin ich von den erforderlichen sieben Stichen pro zweieinhalb Zentimeter sehr beeindruckt. Quilten ist enorm arbeitsintensiv; ein guter Quilt besteht aus über fünfzigtausend Stichen. Die meisten Amisch-Frauen lernen schon früh nähen, und viele bringen einen ordentlichen Quilt zustande. Doch nur wenige können so ein Kunstwerk kreieren.
Das Kind im Bauch meiner Schwester vor Augen, streichele ich über den weichen Stoff. Ich denke an die Babys, die sie schon verloren hat, an die Verluste, die ich selbst erlitten habe, und muss gegen die aufsteigenden Tränen ankämpfen. »Er ist wunderschön.«
»Ja.« Diesmal ist ihr Lächeln echt. »Er ist sehr hübsch.«
Ich lasse die Hand sinken und stelle die Frage, die an mir nagt, seit Tomasetti mich in der Bar mit seinem Rätsel über Pete den Polizisten konfrontiert hat. »Sarah, hast du irgendjemandem von Daniel Lapp erzählt?«
Sie bürstet mit der Hand ein Stück Faden vom Quilt. »Ich möchte nicht darüber sprechen, Katie.«
»Hast du jemandem von Lapp erzählt?«
Sie lässt die Hand mit dem Quilt sinken und sieht mich an, als hätte ich gerade meine Pistole gezogen und ihr mitten ins Herz geschossen. »Ich habe getan, was ich tun musste.«
»Was heißt das?«
»Ich habe zu Gott gebetet, dass er mir den Weg zeigt. Als ich gestern Morgen aufgewacht bin, wusste ich, dass wir – du und ich – nur Frieden in der Wahrheit finden.«
Alles in mir schreit Verrat. »Wem hast du es erzählt?«
»Ich habe Bischof Troyers eine Nachricht geschickt.«
»Was stand in der Nachricht?«
»Die Wahrheit.« Sie blickt hinab auf den Quilt. »Dass du weißt, wer der Mörder ist.«
Die Worte lösen Panik bei mir aus. Sofort habe ich die Szene in der Bar mit Tomasetti vor Augen. Einen Moment lang bin ich so geschockt, dass ich vergesse zu atmen.
»Es tut mir leid, wenn dir das schadet, Katie. Aber ich bin überzeugt davon, dass es richtig war, die Wahrheit zu sagen.«
»Du kennst die Wahrheit doch gar nicht!« Ich fange an, im Zimmer auf und ab zu gehen. »Sarah, wie konntest du das tun?«
»Deine Polizeifreunde können dir jetzt helfen, Daniel zu finden«, erwidert sie.
Mein Herz klopft wie verrückt, ich reibe mir mit beiden Händen übers Gesicht und versuche, mich zu beruhigen. »Hast du die Nachricht unterschrieben? Weiß er, von wem sie ist?«
»Ich habe meinen Namen nicht daruntergeschrieben.«
Ich versuche, mir die Auswirkungen vorzustellen, bin aber zu erschöpft, um klar zu denken. Panik schnürt mir das Herz zu.
»Katie, was ist passiert?«
Ich bleibe stehen und sehe sie an. »Bischof Troyers hat die Nachricht dem Stadtrat übergeben. Oder vielleicht dem Bürgermeister. Und jetzt sind sie misstrauisch mir gegenüber. Bist du nun zufrieden?«
»Ich wollte nicht, dass du leidest, und es tut mir leid. Ich wollte nur, dass Daniel
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