Die Zahlen Der Toten
Täterhandschrift zukommen lassen. Ich sehe sie mir unter dem Aspekt eines Wohnortwechsels an.«
»Schon was gefunden?«
»Noch nicht. Aber es ist eine Menge Material.« Ich halte inne. »Gibt’s Neuigkeiten von den Johnstons?«
»Morgen ist die Beerdigung.«
Ich nicke. »Und wie geht’s LaShonda?«
»Sie ist dick wie ein Haus.« Beim Gedanken an seine hochschwangere Frau huscht ein breites Grinsen über sein Gesicht. »Kann jetzt jeden Tag kommen.«
»Sagen Sie ihr schöne Grüße, ja?«
»Mach ich, Chief. Muss jetzt los.« Er geht zur Tür, öffnet sie und tritt hinaus. »Wir werden in Schnee ersticken.«
»Yeah.«
»Rufen Sie an, wenn Sie was brauchen.«
Er verschwindet um die Ecke, und ich fühle mich plötzlich furchtbar einsam. Ausgegrenzt und abgeschnitten, als wäre ich ganz allein auf dieser Welt. Schnee wirbelt vom grauen Himmel herab, und mir wird bewusst, wie wichtig es für mich ist, hier in Painters Mill zu leben – und wie viel ich verliere, wenn ich nicht um meine Wiedereinstellung kämpfe.
Ich setze mich an den Tisch und lese weiter im VICAP -Bericht, einer düsteren, eintönigen Lektüre. Mord. Vergewaltigung. Serienverbrechen mit allen dazugehörigen verstörenden Details. Um sechs Uhr abends flimmern mir die Worte vor den Augen, die sich anfühlen, als hätte ich Sand drin. Meine Ohren schmerzen, weil ich ewig lange telefoniert habe. Und doch bin ich keinen Schritt weitergekommen. Zweifel beginnen an mir zu nagen. Vielleicht habe ich unrecht. Vielleicht ist Jonas Hershberger doch schuldig. Es ist zwanzig Jahre her, dass ich ihn kannte. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass die Zeit und bestimmte Ereignisse das Leben eines Menschen von Grund auf ändern können. Ich bin selbst das beste Beispiel dafür. Mit dem Gefühl, mich festgefahren zu haben, hole ich die Flasche Wodka und ein Wasserglas aus dem Hängeschrank, schenke es mir viel zu voll und nehme den gefährlichen ersten Schluck. Zurück am Laptop, logge ich mich bei OHLEG ein, um zu sehen, ob meine früheren Anfragen Früchte getragen haben – und stelle fest, dass mein Account deaktiviert ist.
»Mist.« Damit ist auch mein letzter Zugang zu Polizeidaten weg. Ich starre auf den Monitor, frustriert und wütend und ohne eine Idee, was ich als Nächstes machen kann.
Spontan gehe ich zu einer bekannten Suchmaschine, tippe »Einritzungen«, »Unterleib« und »Ausbluten« ein und klicke auf Suche. Ich rechne kaum damit, auf nützliche Informationen zu stoßen, dafür gibt es zu viel schrägen Mist im Internet. Doch außer Links zu Romanauszügen, einer bizarren Kurzgeschichte, einer College-Hausarbeit über Medien und Gewalt gibt es auch einen zum
Fairbanks Daily News-Miner,
was mich ziemlich schockiert. Ich klicke ihn an und lese:
DRITTE LEICHE IM TANANA RIVER ANGESCHWEMMT
Alaska State Trooper berichten, dass am späten Dienstag eine noch nicht identifizierte Frau von Jägern gefunden wurde. Die Frau ist weiß und wahrscheinlich Ende zwanzig. Laut Trooper Robert Mays »war ihre Kehle durchgeschnitten« und sie hatte »an ein Ritual erinnernde Einritzungen auf dem Unterleib«. Das ist die dritte Leiche, die in den letzten sechs Monaten am Ufer des abgelegenen Tanana River gefunden wurde, und die Menschen in der Region sind äußerst beunruhigt. »Wir halten unsere Türen verriegelt«, sagt Marty West, ein Einwohner von Dot Lake. »Ohne mein Gewehr gehe ich nirgendwo mehr hin.« Die Leiche wurde zur Autopsie nach Anchorage gebracht.
Ich starre den Bildschirm an. Mein Herz schlägt heftig. Die Ähnlichkeit ist zu frappierend, um sie zu ignorieren. VICAP hatte nichts ausgespuckt, aber das ist nicht ungewöhnlich, denn örtliche Polizeidienststellen haben erst vor kurzem begonnen, die Datenbank verbreitet zu nutzen. Manche alte Daten wurden wegen Arbeitskräftemangel gar nicht in die Datenbank eingegeben.
Auf der Uhr über dem Herd ist es kurz vor acht. Alaska liegt in der Alaska Standard Time Zone, also vier Stunden früher. Ich google die Telefonnummer der Polizei in Fairbanks, wähle sie, werde zweimal weiterverbunden und erfahre schließlich, dass Detective George »Gus« Ogusawara vor sieben Jahren in Rente gegangen ist. Ich frage den Polizisten nach Ogusawaras Telefonnummer, doch er will sie mir nicht geben und meint stattdessen, ich solle es mal in Portland oder Seattle versuchen.
Ich gehe wieder ins Internet. Glücklicherweise ist Ogusawara ein ungewöhnlicher Name und ich lande schon bei der zweiten Nummer einen
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